Unser täglich Brot gib uns heute …

Schiffsreisen, zumal auf einem vergleichsweise kleinem Segelboot wie der LUV, sind mit Entbehrungen verbunden. Wer segelt, muss auf vieles verzichten, was das Leben gemeinhin angenehm macht: Dach über dem Kopf, fester Grund unter den Füßen, trockene Socken und dergleichen. (Hier sei, zur Vermeidung von Missverständnissen angemerkt: die Segelei bietet zum Ausgleich durchaus auch wunderbare Erlebnisse. Sturmfahrten im Orkan etwa oder Kollisionen mit Walen, Ereignisse, die Landratten völlig fremd bleiben müssen; aber darüber wurde bereits berichtet).

Ein wesentlicher Mangel jedoch, dass hat heute früh eine Umfrage unter der LUV-Crew einmal mehr bestätigt, schmerzt seit Alters her jeden Seemann und jede Seefrau in außereuropäischen Häfen ganz besonders: das beklagenswerte Angebot an genießbarem Brot und die vollständige Abwesenheit von knusperigen Brötchen. In Australien und Südamerika, das habe ich selbst erlebt, kommen immer mal wieder deutsche Auswanderer an Bord deutscher Seeschiffe und bieten horrende Summen für einen deutschen Brotlaib. Das ist manchmal recht lästig und in diesem Zusammenhang ist eine Redewendung zum geflügelten Wort in der Seefahrt geworden: „Gott schütze mich vor Sturm und Wind, und Deutschen, die im Ausland sind.“ Diese hässlich Bemerkung über die „Schwarbrotdeutschen“ wird dem Leid unserer Landsleute jedoch in keiner Weise gerecht und nach fast einem Jahr in fremden Gewässern leisten wir, selbst leidgeprüft, in aller Form Abbitte.

Ebenfalls in diesem Zusammenhang: Der Hang deutscher Segler zum  frischen Brötchen  hat zu zu einer weiteren diffamierenden Story geführt, die an dieser Stelle kurz notiert und zugleich heftig dementiert werden soll: Wenn ein Skipper, sagen wir mal: aus Buxtehude, nachts einen dänischen Hafen anläuft, führt in sein erster Weg in der Früh zum Bäcker. Dort kauft er Brötchen. Auf dem Rückweg liest er den Aufdruck auf der Tüte, und jetzt weiß er wo er ist. Man nennt das Bäckertüten-Navigation. 

Zurück zu den wirklichen Dramen. In den USA ist die Bäcker – Notlage sozusagen mit den Händen zu greifen. Beim Proviantkauf im supergrossen Supermarkt stehen wir mal wieder vor gefühlt 350 laufenden Metern Brotregalen und buchstäblich jeder Laib, geschnitten oder nur im Ganzen verpackt, ist absolut fluffig, wattig, substanzlos. Ich bin sicher, das ganze riesige Brotangebot hier ließe sich ohne Mühe auf die Größe eines Zuckerstückchens verdichten. Apropos Zucker: das, was die hier für Brot verkaufen, ist zumeist auch noch eklig süß. Ein statisches Wunder übrigens, dass die Konsistenz des Backwerks das Gewicht einer Käse- oder Wurstscheibe aushält.

 

Wie soll man da überleben? Während unserer Atlantiküberquerung zehrten wir von Schwarzbrotvorräten, die wir in Dosen verpackt mitgenommen hatten. Außerdem  konnte Till mit einigem Aufwand frisches schmackhaftes Vollkornbrot backen. Da hatte man was zwischen den Zähnen, ein Biss und der Mund war nicht nur voll mit schnittfester Luft. Das Mehl dafür aber ist längst aufgezehrt, nicht mal beim US-Aldi fand sich Ersatz.

Manchmal verirrt sich ein kleines Paket Knäckebrot in amerikanische Regale, nicht beim Brot wohlgemerkt, sondern versteckt bei den Spezialitäten. Und heute, oh Wunder, gibt es richtige, knackige Brötchen zum Frühstück. Drei verschiedene Sorten, dunkle runde, helle mit Mohn, Roggenbrötchen, wie daheim. Wie das?

Wir sind im Hafen von Mystic, einem idyllischen Örtchen mit langer Seefahrertradition im Nordosten des Long Island Sound. Irgendwie muss es einem gewiss urdeutschem Bäcker hierhin verschlagen haben und der Supermarkt bietet dessen Produkte als „homemade Rolls“ an, hausgemachte Brötchen.

Wir bedauern sehr, dass wir diesen mystischen Platz wieder verlassen müssen. In Essex, Connecticut, ist ein Crewwechsel geplant. Ich fliege für ein paar Wochen nach Hause. Wenn ich wiederkomme, das habe ich fest versprochen, habe ich Schwarzbrot im Gepäck.

Fürsorgliche Überwachung: Gewitterwarnung und Hurricanegefahr

So ein Überwachungsstaat wie die USA hat ja auch Vorteile: Eben jaulen parallel unsere Handys auf und uns wird diese Alarmmeldung übermittelt: „Notrufhinweis: Gewitter mit starken Regenfällen ( „flash flood“), vermeiden Sie Gebiete, die überflutet werden können. Schalten Sie lokale Medien ein.“ Offensichtlich verfügt der Nationale Wheather Service über die privaten Telefonnummern aller fünf Handys an Bord der LUV und über unser Bewegungsprofil und meint, es sei an der Zeit, die deutschen Segler mal zu warnen. Man weiß offensichtlich, dass die sich im Hafen von Stamford befinden.

Dass ein gigantisches Gewitter über die Stadt am Long Island-Sound eben nordöstlich von New York hereingebrochen ist, haben wir allerdings auch ohne die fürsorgliche NWS mitbekommen. Wir haben so etwas sogar erwartet und laufen nach einer nur kurzen Seefahrt den sicheren Hafen an. Gut vertäut sind wir vorbereitet auf die anstehenden meteorologischen Katastrophen. Nach diesem brüllend heißen Tag, der Wetterbericht spricht von „gefühlten 39 Grad“, schauen wir sogar mit ein wenig Hoffnung auf die sich auftürmenden schwarzgelbgrauen dramatisch rasch heranrasenden Wolkengebirge: Es wird sicher kühler werden. Das Gewitter kündigt sich erst durch Wetterleuchten und fernes Grollen an, dann präsentiert es sich durch ein andauerndes Feuerwerk phantastischer Blitzgirlanden, ohrenbetäubend untermalt mit immer näher kommendem Donnergetöse. Solche Gewitter kennen wir nicht an der Elbe. Der Himmel ist hier höher, die Blitze heller und länger, der Donner unvergleichlich.
„Kommt der Wind vor dem Regen, kannst Du Dich zur Ruhe legen.“ Zisch gibt diese Wetterregel als erfahrener Seemann zum Besten. Ich kenne die Fortsetzung:“Kommt der Regen vor dem Wind, roll die Segel ein geschwind.“ Wie viele solcher Sprüche sind auch diese wenig hilfreich. Wind und Regen fallen gerade nahezu gleichzeitig über die Schiffe in der Stamford-Marina her. Der Regen ist ein dichter Wasserfall, der Wind eine langanhaltende Sturmbö. Auf See wären wir jetzt aufgeschmissen. Das für heute Abend vorbereitete große Feuerwerk zum 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, ist gründlich abgesoffen, wenngleich: So schlecht war die Ersatzvorstellung der Wettergötter gar nicht.
Nach einer guten Stunde ist alles vorbei. Wir reißen die Luken und Fenster der LUV auf um frische Luft hereinzulassen – und sind bitter enttäuscht. Das Gewitter hat kaum Abkühlung gebracht. Es fühlt sich an, als ob die vielen Blitze die Luft noch zusätzlich aufgeheizt haben.
Wenn wir Pech haben, ist die heutige „Flash-Flood“ nur ein harmloses Vorspiel. Wir erwarten den tropischen Wirbelsturm „Arthur“, den „ersten Hurricane der Saison“, wie Spiegel Online dramatisiert. Gestern noch hatten die Wetterfrösche in Europa und den USA die von „Arthur“ zu erwartenden Windgeschwindigkeiten auf 105 Knoten pro Stunde hochgerechnet, das sind unvorstellbare 16 Beaufort! Heute früh gab es dann Entwarnung: Nur noch Orkanstärke für die amerikanische Ostküste. Aber eben gerade kommt die Meldung herein, dass „Arthur“ zum Hurricane der Kategorie 2 heraufgestuft worden sei. Und was noch blöder ist: Die vorhergesagte Zugbahn hat sich um 500 Meilen zu unserem Nachteil verändert. Da haben wir nun alles unternommen, um uns rechtzeitig mit unserem Schiff aus der traditionell wirbelsturmgefährdeten Karibik in den vermeintlich sicheren Norden zu verpfeifen – und nun das. Wehe, die amerikanischen Wettergeheimdienstler warnen uns morgen oder übermorgen nicht rechtzeitig. Dann beschweren wir uns beim NSA-Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestages.

Zu Besuch bei Moby Dick und Strandräubern auf Nantucket

Der Fußball beschert der LUV-Crew in diesen Wochen zahlreiche Hafentage. Es soll ja Segelboote geben, die mit Fernsehern ausgerüstet sind. Unser Schiff gehört nicht dazu und so muss dafür Sorge getragen werden, dass wir die wichtigsten Spiele der WM dennoch nicht verpassen. Die Zeit zwischen den Wettkämpfen mit deutscher Beteiligung wollen wir nutzen und eine Vorhut reist mit dem gemieteten Auto schon mal ein paar Meilen der LUV vorraus um den einen oder anderen Hafen von Land auszukundschaften.
Heute also Nantucket. Von dieser Insel im äussersten Südosten der USA brach Käptn Ahab auf, um Moby Dick um die halbe Welt zu jagen. Hermann Melville beschreibt in seinem dicht an maritimen Fakten angelehnten Roman diesen „Sandhügel ohne Hinterland, geformt wie ein Ellbogen, Düne durch und durch“: Spassvögel würden behaupten, „von selber wachse das Unkraut dort nicht, es müsse erst angepflanzt werden, zu diesem Zweck würden Disteln aus Kanada eingeführt.“

Wer jetzt an Sylt denkt, der liegt richtig. In Nantucket wohnen im Sommer die wirklich Reichen und angeblich Schönen der Neuen Welt.
Hinter dichten Hecken und rosa Rosen verstecken sich ihre Anwesen mit traumhaftem Ozeanblick. Was den Syltern das allgegenwärtige Reetdach ist auf Nantucket die vom Salzwind verwitterte Holzschindel. Die grauen Bretter sind verantwortlich auch für den Namen der Insel: „Gray Lady.“

In der aufwändig konservierten historischen Altstadt wirbt ein Makler für ein Immobilienschnäppchen: 35 Millionen Dollar kostet das Anwesen mit breitem Privatstrand. Im Walmuseum nebenan erinnert eine gar nicht ironisch gemeinte Schautafel an die indianischen Ureinwohner von Nantucket. Für die sei die Idee der Einwanderer, Land zu kaufen und zu verkaufen eine „Innovation“ gewesen. Luft und Wasser hielten die „Wilden“ genauso wenig für eine Handelsware wie der Grund und Boden, den sie großzügig mit den Siedlern teilten. Bis diese ihnen sagten, nun sei aber mal Schluß mit den unchristlichen Ideen vom Gemeineigentum.

Im Hafen ist nicht viel los. Nur eine Handvoll Gastboote verlieren sich auf den 250 Liegeplätzen. Eine auf Hochglanz polierte Schoneryacht mit blitzenden Beschlägen ist eben dort angebunden, wo vor 200 Jahren die größte Walfangflotte der Welt für die Langfahrt ausgerüstet wurde. Ihre Masten sind so hoch, dass die US-Flugsicherung Sonderlichter im Topp verlangt, um Kollisionen mit Flugzeugen zu vermeiden. Der Weltstar Jonny Depp war vor ein paar Tagen mit seiner Yacht hier. Für den Spottpreis von 130 000 Dollar könnte man den nostalgischen weissen Prachtkahn chartern. Eine Woche lang.

Beim Hafenmeister, hier „Dockmaster“ genannt, will ich einen Liegeplatz für die LUV reservieren. Das geht nur schriftlich, mit genauer Ankunftszeit und mit Vorkasse per Scheck oder Kreditkarte. Für eine Nacht, sagt der Dockmaster ungerührt, seien 300 Dollar fällig, plus 100 Dollar, um unsere schwachen Batterien mit Landstrom aufzuladen.
Da sind wir wohl unter die Strandräuber geraten. Zum Vergleich: Im Stader Stadthafen, geschichtsbewusste Amerikaner würden ausflippen, wenn sie ihr Schiff in solch historischem Ambiente anbinden könnten, hat die LUV zuletzt 13,50 Euro bezahlt.
Vor der Reise nach Nantucket hatte uns vor einigen Tagen ein wohlmeinendes Ehepaar aus Maine gewarnt. Beim gemütlichen gemeinsamen Frühstück aller Gäste in einer Bed&Breakfast-Unterkunft an der Küste kommen wir vom Hölzchen aufs Stöckchen, von der Seefahrt zur Arche Noah und zu der Frage, ob denn tauch Zecken damals zur See gefahren seien.
Die sehr bibelfesten Eltern von vier eigenen und vier adoptierten Kindern wußten es ganz sicher: Von jeglichem Geschöpf sei ein Paar mit an Bord der Arche gegangen, und der liebe Gott und keineswegs die heidnischen Kräfte der Evolution hätten dafür gesorgt, dass eben auch Zecken auf Noahs Schiff die Sintflut überlebt hätten und so auch auf Nantucket fruchtbar wurden: „Die ganze Insel ist verseucht mit diesen Viechern.“
Noch ein Grund für die LUV, einen anderen Kurs zu wählen.

Keine Handbreit Wasser unter dem Kiel

Michael kann eine sehr lange und ereignisreiche Geschichte unvergleichlich kurz darstellen. Im Logbuch der LUV steht diese Eintragung aus seiner Feder: „10.15 Uhr Uhr. Abgelegt. 10.30 Uhr. Im Kanal auf Grund gelaufen. 13.50 Uhr: Wir haben uns freimotort.“

Das kann man auch ausführlicher erzählen. Was war passiert? Am Vorabend laufen wir in den kleinen Hafen Piney Narrows ein, ein Nest im Nordwesten der ansonsten atemberaubend schönen Cheasapeak Bay, dieser maritime Wunderwelt mit breiten aber sicheren Seestrecken, tief ins Land führenden schiffbaren Flüssen,  zahlreichen verwunschenen Ankerplätzen in geschützten Buchten und auf grünen Inseln zauberhafte Dörfer mit intakter Bebauung aus der Kolonialzeit. 

Am Mittag auf See war uns während des Kochens der Kartoffeln das Gas ausgegangen. In Annapolis hatten wir vortags noch versucht, unsere leeren Propanbehälter auffüllen zu lassen. Aber die Anschlüsse der europäischen Gasdruckbehälter sind mit den amerikanischen nicht kompatibel und so scheiterten wir beim risikoscheuen Gashändler.

Jetzt also droht kalte Küche, noch schlimmer: Kein Kaffee. Die Rettung finden wir im  Hafenhandbuch. Im Hafen von Piney Narrows, weitab von unserer geplanten Route, gibt es jedweden Service für Boote und Yachten. Nix wie hin. Im sehr ausführlichen Waterway Guide für den Cheasapeak finden wir den warnenden Hinweis, der bei Niedrigwasser sieben Fuß tiefe Kanal zum Ort versande leicht. Man solle unbedingt „lokal knowlegde“ nutzen, also den Rat der Einheimischen. 

 

„Alles kein Problem“, sagt am Telefon der ortskundige Hafenmeister, eben gerade sei die Zufahrt nach Piney Narrows gebaggert worden, vollständig ausreichend für die 2,20 Meter tief gehende LUV. Und tatsächlich erreichen wir sicher den kleinen Hafen. Der überaus hilfsbereite Hafenmeister fährt uns kostenlos zur Gasfüllstation. Auch dort ein voller Erfolg. Die angekochten Kartoffeln werden – wenn auch verspätet- doch noch gar.

Wieder voll seetauglich ausgerüstet legen wir am nächsten Morgen ab und freuen uns auf die ruhige Nacht in der nächsten Ankerbucht. Zehn Minuten später sitzen wir fest. Mitten in der angeblich ausgebaggerten und sehr gut mit roten und grünen Seezeichen begrenzten Fahrrinne läuft die Luv sanft auf Grund. Alle Versuche, das Schiff mit Motorkraft wieder flott zu bekommen, scheitern. Wir liegen quer im Fahrwasser, regungslos, mit leichter Schlagseite. Über UKW fragen wir den freundlichen und ortskundigen Hafenmeister, wie er das erkläre. Unser Tiefgang sei eben doch zu groß, meint er. Wo denn die angeblich gebaggerte Fahrrinne besonders tief sei, wollen wir wissen. An der Backbordseite sagt er. 

An der Steuerbordseite, sagt der Kapitän des Motorbootes, der an uns vorbeischippert und besorgt fragt, ob wir denn festsitzen. Diese Frage beantworten wir anderen Bootsführern ein gutes Dutzend mal. Ein kleines Anglerboot kommt vorbei. Die Insassen sehen aus, als hätten die besonders gute „lokal knowledge“. Backbord ist es tief, meint die Frau, nein Steuerbord sei es tiefer, widerspricht der Mann. Wir können die  beiden bewegen, mit ihrem Fishfinder, dem elektronischen Tiefenmesser, für uns zu loten. Sie messen an backbord, sie fahren nach steuerbord und stellen fest, dass es überall doch ziemlich flach sei.

Vorsorglich fragen wir über UKW nach einem Schlepper, der uns von dem Sand ziehen  könnte. Wir erhalten eine Telefonnummer, die uns mit einem wenig hilfreichen Anrufbeantworter verbindet. Wir beschließen, auf das nächste Hochwasser zu warten. Der Tidenhub ist hier zwar kaum zwei Fuß hoch, aber jeder Zoll zählt. Keine 20 Meter von uns entfernt brütet ein Fischadlerpaar auf einem der Pfähle, die das Fahrwasser begrenzen. Wir haben ausreichend Zeit, Naturbeobachtungen  anzustellen. Die großen Vögel gehen abwechselnd auf Jagd und sie sind fast immer erfolgreich.  Buchstäblich auf jedem zweiten Seezeichen haben diese Tiere aus dicken zweigen Nester gebaut. In den 5oer Jahren waren die Fischadler beinahe ausgerottet,  weil allzu viel giftiges DDT ihre Fortpflanzungsfähigkeit ruiniert hatte. Heute sind sie in der Cheasapeak Bay häufiger als Möven.

Zwischen den Fischzügen der Adler versuche ich immer mal wieder mit der vollen Kraft unserer 65-PS-Maschine Bewegung ins Schiff zu bringen. Im aufgewühlten Schraubenwasser spült gelber Sand hoch. Die LUV dreht sich auf der Stelle. Steuerbord ist jetzt Backbord, oder war es umgekehrt? Sigrid steht mit einer Schleppleine auf dem Vorschiff und winkt bittend den vorbeifahrenden Motorbootfahrern zu. Einige machen einen großen Bogen um uns. Zwei fahren ganz dicht an uns vorbei, die Schiffsführer starren präzise geradeaus und geben vor, uns und die Schleppleine nicht zu sehen. Die Skipper von zwei kleineren Booten bieten ihre Hilfe an. Wir trauen ihren schwachen Klampen jedoch nicht allzu viel zu.

Schließlich helfen die Geduld und die Flut. Unter lautem Gedröhn des Motors drängelt sich der Kiel der LUV eine eigene kleine Furche in den Grund und findet schließlich tieferes Wasser. Langsam tastet sich das Boot durch den Kanal, findet auch die nur wenige Meter breite Rinne zur Freiheit. An Backbord übrigens. Wichtig für alle, die unseren Trip auch einmal probieren wollen. 

 

Heiko Tornow

Überall ist Maryland

Die amerikanischen Behörden verlangen von durchreisenden Segelbooten, dass sich der Skipper und seine Crew allabendlich telefonisch bei der Customs and Borderprotektion meldet, jedenfalls dann, wenn das Schiff seine Position verändert hat. Die Amis wollen halt wissen, wer sich bei ihnen wo herumtreibt. Wir sind ja willig.
Ich habe diese Kommunikationsaufgabe an Michael delegiert. Er ist nicht so allergisch gegen überflüssige Bürokratie wie ich, spricht feinstes Oxford-Englisch und es gelingt es ihm wie keinem, mit wahrer Engelsgeduld die Gesprächspartner so lange um verständliche Aussprache zu bitten, bis diese entnervt aufgeben und uns für diesen Abend in Ruhe lassen.
 
Hier die Übersetzung eines typisches Telefongespräches zwischen einem Menschen der Zoll- und Grenzschützbehörde und der LUV:
 
„Hier ist Michael von der deutschen Segelyacht LUV. Wir wollen uns bei Ihnen melden.“
„Whuaereairju?“
„Das habe ich nicht verstanden. Bitte wiederholen Sie“
„Whuaereairju?“
„Hier ist Michael von der deutschen Segelyacht LUV.“
„Wo – sind – Sie?“
„Im Potomac.“
„Whieuriesdat?“
„Das habe ich nicht verstanden. Bitte wiederholen Sie.“
„Whieuriesdat?“
„Hier ist Michael von der deutschen Segelyacht LUV. Bitte noch einmal.“
„Wo – ist  – das, Potomac?“
„Das ist der Fluß, der von der Chesapeake Bucht nach Washington führt.“
„In – welchem – Bundesstaat  – ist – das?“
„Sie sind doch von hier. Woher soll ich das wissen?“
„In – welchem – Hafen – sind – Sie?“
„Wir liegen vor Anker in der Loan River Bucht.“
„Whieuriesdat?“
„Das habe ich nicht verstanden. Bitte wiederholen Sie.“
„Wo – ist – das?“
„Das – ist – eine – Bucht – im – Potomac. Das – ist  ein – Fluss….“
„Ok. Keine Stadt?“
„Nein.“
“ Dann – brauchen – Sie – sich – auch – nicht – zu – melden. Erst – in – der – nächsten – Stadt.“
Na dann.
In der nächsten Stadt sind wir am Freitagabend. Die Grenzschützer sind nur noch per Anrufbeantworter erreichbar. Wir diktieren Namen und Standort und die Nummer unserer Reise-Erlaubnis aufs Band und bitten um Rückruf. Die Stimme vom Band bedroht uns nämlich, wir müssten zehntausend Dollar bezahlen, wenn wir der Meldepflicht nicht nachkommen. Wie aber belegen wir unsere Gesetzestreue? Auch am Sonnabend macht der US-Grenzschutz frei, am Sonntag sowieso.
Am Montag der Rückruf:

„Weiditjunotcompleiwisthelo?“

„Hier ist Michael von der deutschen Segelyacht LUV. Ich habe Sie nicht verstanden.“
„Warum – haben – Sie – sich – nicht – gemeldet? „
„Warum haben  Sie Ihren Anrufbeantworter nicht abgehört?“
„Oh – Sie – haben -darauf -gesprochen.?“
„Dreimal.“
„Whuaereairjuexakkt?“
„Bitte wiederholen Sie.“
„Wo – sind – Sie – jetzt – gerade – genau?“
„Ich laufe gerade zum Supermarkt.“
„Ach – Sie – gehen? Sie sind nicht im Auto?“
„Ich habe kein Auto, ich gehe zu Fuß. Und sonst segel ich.
„Wirklich?“
„Wirklich.“
Nach einigem Hin und Her einigt Michael sich mit dem Beamten darauf, dass wir jetzt erstmal eine Zeitlang in den Gewässern von Maryland bleiben. Solange die LUV die Grenzen  dieses Bundesstaates nicht verlässt, müssen wir uns nicht erneut melden.
 
Für die LUV  ist erst einmal überall Maryland.

Bunte Tücher mit tiefer Bedeutung

 

Flaggen und Wimpel, Stander und andere bunte Tücher haben seit jeher ihren festen Platz auf Schiffen. Die Luv führt zum Beispiel neben der schwarzrotgoldenen Nationalflagge auch noch den Vereinsstander der Seglervereinigung Altona Ovelgönne sowie – im Ausland – Steuerbord unter der Saling die Flagge des jeweiligen Gastlandes. Jetzt also flattert dort die amerikanische : Stars and Stripes. Wir könnten noch ein übriges tun und darunter die bunte viergeteilte Flagge von Maryland setzen, weil wir im Hafen von Annapolis angelegt haben, der Hauptstadt dieses US-Bundesstaates. Wir wollen es aber nicht übertreiben. Die Annapolitaner haben ihre Stadt, die übrigens nicht größer ist als Buxtehude, ohnehin über und über mit ihren Nationaltüchern dekoriert. Nicht nur, dass in diesem Mekka des US-Wassersports auf jedem der hier beheimateten tausendvierhundert Boote ein Banner weht. Auch vor jedem Haus, an jedem Laternenpfahl hängt eine Fahne, an manchen zwei, nämlich noch die von Maryland. In den Boutiquen der Hauptstrasse werden Hundeportraits feilgeboten. Die Schoßtiere apportieren Stöckchen mit Stars and Strips. Gürtel, T-Shirts, Unterhosen alles ist patriotisch weissblaurot gefärbt. Wir fragen Passanten, was denn gefeiert wird, wenn sie ihre Stadt so über alle Toppen flaggen. Das ist ein ganz normaler Tag, ist die Antwort.  

Im Capital Yacht Club, dem feinen Washingtoner Hauptstadtverein, war die LUV-Crew eingeladen, an einer Mitgliedersitzung teilzunehmen. Wir hatten uns kaum in die mit grünem Leder bezogenen Mahagonisessel gesetzt, mussten wir auch schon wieder aufstehen. Der Commodore des Clubs zog eine mannshohe Fahne hinter dem Vorhang hervor, alle machten Front zum Tuch an der Stange, legten die rechte Hand aufs Herz und versprachen einander, immer gute Amerikaner zu sein. Oder so ähnlich. Nach diesem Fahneneid überreichte mir der Kommodore einen Vereinsstander  und ich revanchierte mich mit unserem schwarz-gelben SVAOe-Wimpel. Er hängt jetzt mit einigen hundert anderen aus aller Welt über der Bar des Capital Yacht Clubs. Eine Vitrine enthält ein Zertifikat welches amtlich belegt, dass die Vereinsflagge tatsächlich einmal auf dem Washingtoner Capitol geweht hat. Wahrscheinlich wehte sie dort nur kurz, wenn man annimmt, dass auch die anderen nationalstolzen Wassersportclubs der USA eine so prominent geweihte Fahne ihr Eigen nennen wollen. Das wären einige tausend Flaggen, die über dem Symbol der demokratischten aller Nationen gesetzt und wieder eingeholt werden müssen.
Das Zertifikat in der Vitrine erinnert mich an das zutiefst vaterländische Gedicht von Karl Rode, der zu deutschen Kaiserzeiten der damaligen Flagge ein unsterbliches Denkmal gesetzt hat:
„Was steigt denn da für’n schwarzer Qualm am Horizont empor? Das ist des Kaisers Yacht, die stolze Meteor. Der Kaiser steht am Steuerrad, Prinz Heinrich lehnt am Schlot, und hinten schwingt Prinz Adalbert die Fahne Schwarzweißrot. Und achtern, tief in der Kombüse, brät Speck Viktoria Luise. So steh’n wir um des Thrones Stufen und halten ihn in Treue fest und sind bereit, Hurra zu rufen, wo es sich irgend machen lässt.“

Deutsche Vereinstextilien, auch solche aus der Kaiserzeit, sind in der Washingtoner Wimpelsammlung Mangelware. Wir erfahren, dass höchstens alle Jahre mal ein deutscher Segler es den Potomac hinauf bis zum Kapitol und zum Weissen Haus schafft. Entsprechend war der Empfang. Der Sieg der LUV beim Wettsegeln über den Atlantik, der ARC-Ralleye, hatte sich bis ins Machtzentrum der Welt herumgesprochen.  Lob und Hudel und Respekt von jeder Seite. Und wirklich grenzenlose Hilfsbereitschaft und herzliche Freundlichkeit von jedermann im Capital Yacht Club. In der Clubzeitung lesen wir den Monatsbericht des Vice-Commodores Dan Waldrop. Er  erinnert die Mitglieder daran, dass die Liegegelder von Gastschiffen immerhin zehn Prozent des Vereinsbudgets ausmachen. Und deshalb: „Unsere durchreisenden Gäste willkommen zu heißen ist erste Pflicht für jedermann!!“ Nun ja, warum soll man das Angenehme nicht mit dem Nützlichen verbinden?
In Annapolis schliessen wir uns einer Stadtführung an. Der in Gewändern aus der Kolonialzeit gekleidete  Squire Richard macht aus der Tour durch das bemerkenswert gut erhaltene historische Viertel eine witzige und selbstironische Veranstaltung. Zur amerikanischen Flagge und der dazugehörigen Hymne „Star-Spangeld Banner“ weiss er zu erzählen, dass sie erstens von einem Menschen aus Maryland gedichtet wurde und man besser zweitens nur die erste Strophe dieses patriotischen Liedes singen sollte, die beiden restlichen würden politisch nicht mehr korrekt sein, weil sie doch recht blutig sind und als Loblied auf die Sklaverei misszuverstehen seien. Und drittens würde er sowieso nicht verstehen, warum seine amerikanischen Landsleute jedesmal ihre Flagge lauthals besingen müssten, wenn irgendwer, etwa beim Baseball oder beim Football oder bei Socker, einen Ball in die Luft wirft. Ich erzähle unserem Führer, dass wir in Deutschland auch Probleme mit diversen Strophen unserer Nationalhymne hätten, nur irgendwie umgekehrt. Squire Richard ist definitiv der Meinung, das Amerika und _Deutschland sehr viel gemeinsam haben.

Wenn wir an Bord morgens unseren Flaggenstock in die Halterung am Heck stecken, hat das auch für uns eine über den schnöden Akt hinausgehende tiefere Bedeutung. Bei unseren Schiffspapieren findet sich das Schiffszertifikat der Bundesrepublik Deutschland. Darin wird dem Seeschiff LUV vom Registergericht Hamburg „bezeugt“ , dass es „nach § 1 des Flaggenrechtsgesetzes das Recht hat, die Bundesflagge der Bundesrepublik Deutschland zu führen und dass ihm alle Rechte, Eigenschaften und Privilegien eines deutschen Schiffes zustehen.“

Ob ich als Kapitän der LUV das Recht oder das Privileg habe, etwa Ehen zu schließen? Ich habe mal etwas gelesen von gültigen Hochzeiten auf Hoher See. Aber zur Zeit ist ohnehin kein Liebespaar unverheiratet an Bord. Sigrid meint in diesem Zusammenhang, es wäre mal höchste Zeit, die Nationalflagge der LUV zu waschen.

An Bord pfeift nur der Wind

Besser kann es gar nicht mehr kommen. Um sieben Uhr sind wir aus Norfolk ausgelaufen, der Hafenmeister war noch nicht im Dienst, wir konnten ihm das Hafengeld leider nicht bezahlen. Gestern Abend, als wir in die Marina einliefen, hatte er schon Feierabend gemacht. Unterm Strich sind das 100 eingesparte US-Dollar.  Die Sonne scheint, der Wind bläst aus genau der richtigen Richtung und exakt  mit der perfekten Stärke in die Segel der Luv. Die Mannschaft sitzt am gut gedeckten Frühstückstisch im Cockpit. Zum ersten mal, seit wir vor fast einem Jahr aus der Elbe ausgelaufen sind, ist es Michael gelungen, mein Ei auf den Punkt viereinhalb Minuten richtig weich zu kochen und Eggerts Exemplar kernweich so zu servieren, dass er restlos zufrieden ist. Wir loben Michael über den grünen Klee.  Die Arbeit erledigt der Autopilot, der uns nach Norden die Chesapeak Bucht schippert. Seglerherz, was willst du mehr?

Und genau jetzt, ausgerechnet, sagt Öko, unser junger studentische Mitsegler aus Buxtehude-Hedendorf den fatalen Satz: “ Wenn der Wind so bleibt, wird das eine schnelle Reise nach Washington.“  Ich versuche zu retten, was zu retten ist und sage:“ Nie bleibt der Wind wie er gerade ist. So was sagt man nicht.“  Wir alle am Tisch erinnern uns gleich an gestern Nachmittag. Da hatte Öko sogar gepfiffen. Mit der vorhersehbaren Folge, dass der zuvor so vorteilhafte Wind vollkommen einschlief. Das sei ihm so rausgerutscht, entschuldigt sich Öko, dabei weiß er genau: An Bord pfeift ganz allein der Wind und der Bootsmann. Alles andere bringt Unglück, mindestens aber schlechtes Wetter.

So auch jetzt. Kaum ist der Satz von der schnellen Reise aus dem Mund, schon schläft die feine Brise ein.Wie müssen den Motor anwerfen. Als der Wind wieder anspringt, kommt er direkt von vorn, zusätzlich stellen wir eine starke Strömung fest, die uns entgegen der Vorhersage des Tidenkalenders ordentlich bremst. Nix mehr mit guter Fahrt. Zu allem Überfluss überfällt die Luv aus zuvor heiterstem Himmel eine dichte Nebelbank. Es ist kalt, es ist nass, wir sehen nichts mehr. Wir tasten uns durch eine dicke Suppe, und können nur ahnen, dass sich dahinter das angeblich zweitschönste Segelrevier der vereinigten Staaten von Nordamerika versteckt.

Das kommt von der Missachtung seemännischer Gebräuche. Da sage noch mal einer, Aberglaube habe keine Grundlage.

Neues von der Luv

Die Seefahrt in diesen Gewässern entlang der amerikanischen Ostküste ist definitiv etwas für Zoologen. Im Hafen von Cap Canaveral zirkelte ein Exemplar der sagenumwobenen Seekühe um die Luv. Diese seltenen Meeressäuger wurden vor Zeiten für Seejungfrauen gehalten.
Was wir allein heute von Bord der Luv an Tieren beobachten können, reicht für einige Kapitel in Brehms Tierleben. Das Natur-Watching beginnt gleich in der Früh mit den Pelikänen (wir haben uns auf den Plural mit A-Umlaut geeinigt, weil das besser passt zu diesen auf den ersten Blick so plumpen Wasservögeln).  Scheinbar gemütlich und ohne böse Absicht flattern sie mit langsamen Flügelschlägen in 15 Metern Höhe über der ruhigen See. Auf einmal verwandelt sich der Vogel in einen Pfeil. Der Hals schnellt nach vorn, die Flügel sind angelegt wie bei einem Jet und blitzschnell stürzt sich der Jäger auf einen für den Betrachter unsichtbaren Fisch. Gleich schwimmt der Pelikan wieder auf den Wellen und schleudert seine Beute von Schnabel in den weiten Kehlsack. Ein zufriedenes Kopfschütteln und schon erhebt er sich wieder in die Luft, 15 Meter hoch, scheinbar gemütlich und ohne Arg.
Von diesen sich wegen der vielen Pelikäne sich vielfach wiederholenden Jagdscenen werden wir abgelenkt durch Delphine. Die sind hier deutlich größer als im östlichen und im mittleren Atlantik, dafür aber auch deutlich träger. Während die -sagen wir- europäischen Delphine immer mal wieder Wettrennen mit der Luv veranstalteten und spielerische Show-Einlagen vor dem Bug zum Besten gaben, nehmen ihre amerikanischen Vettern von der deutschen Segelyacht kaum Notiz. Ungerührt tauchen sie im Takt und mit unnachahmlich eleganten Bögen auf und unter und lassen uns Steuer- oder Backbord liegen. Dabei sind Segler, zumal deutsche, hier eine absolute Seltenheit. Auf dem Wasser findet sich seit Fort Lauderdale im Süden Floridas bis hier vor Charleston, South-Carolina, kaum ein Segel am Horizont und in den Häfen sind die Piers leer. Es sei zu früh im Jahr, meint der freundliche Hafenmeister in Charleston und räumt uns großzügig den Liegeplatzrabatt ein, der sonst nur einheimischen Yachtclubmitgliedern gewährt wird. Die eingesparten Dollars verbraten wir in einem irischen Pub mit großartiger Country-und Western-Mucke.

 

Aber ich wollte von Tieren berichten. Die überfallen uns gerade zu dutzenden, zu hunderten, zu tausenden. Die Luft ist auf einmal voll mit kleinen schwarzen Fliegen. Sie lassen sich auf dem Deck nieder, bilden ein Schwarm auf dem Hemd des Rudergängers, sind unzählige Punkte auf den Segeln, mit jeden Handgriff an einer Leine werden die Viecher zerquetscht, jeder Schritt tötet, wer sich im Cockpit hinsetzt, verursacht ein Massaker. Auf der Meeresoberfläche schwimmen die Leichen unzähliger Insekten. Eggert rechnet mal schnell hoch. Pro Quadratmeter fünfzig Kadaver, macht auf den Quadratkilometer 50 Millionen Flattertiere. Multipliziert mit der wie immer sehr hohen Dunkelziffer kommen wir auf 400 Milliarden Fliegen, die mit dem Wind von Land über uns hereingebrochen sind.
Mit Besen und Seewasser versuchen wir der Invasion aus der Luft Herr zu werden. Kaum haben wir eine Hälfte des Schiffes einigermaßen von den Plagegeistern befreit, fallen erneut noch dichtere Schwärme über uns herein. Sie nisten im Haar, krabbeln ins Ohr, kriechen in die Nase. Es ist widerlich. Unsere Hoffnung, der auffrischende Wind würde den Spuk wegblasen, wird bitter enttäuscht. Wir suchen unser Heil in der Flucht hinaus auf See. Wir sind jetzt elf Meilen weg vom Land und noch immer atmen wir Fliegen.
Wir bekommen Besuch. Ein etwa drosselgrosser bunter Vogel landet erschöpft im Cockpit direkt hinter dem Rudergänger. Er ist mit seinem kernbeisserähnlichen dicken Schnabel erkennbar ein Landtier. Eine halbe Stunde hockt er regungslos und mit geschlossenen Augen auf dem Teakdeck und wir können ihn bewundern: leuchtend rote Brust, schwarz-weiß geflecktes Gefieder wie bei einer Elster, eine richtige Schönheit. Die Fliegen interessieren ihn nicht weiter. Er pickt mal nach zwei oder drei Exemplaren, die vor seinem Schnabel vorbeikrabbeln aber er frisst sie nicht. Typisch Körnerfresser, sicher keine Hilfe im Abwehrkampf gegen die Fliegen. Unser blinder Passagier pickt noch einmal in meinen Finger als ich ihn kraulen will und verschwindet dann in Richtung North Carolina. Hoffentlich verirrt er sich nicht wieder.

 

Wir versuchen uns derweil als Naturforscher und stellen uns die Frage, was sich wohl die Evolution dabei gedacht hat, ein solches Massenfliegen und Massensterben zu veranstalten. Ich habe ähnliches schon einmal vor Jahren  in der Ostsee im südlichen Dänemark erlebt, als Milliarden von Marienkäfern Land, Schiff und Meer mit ihren gelbroten Leibern überzogen. Antwort erhalten wir auf einfachere Fragen: unsere Fliegen sind zwischen acht bis zehn Millimeter groß, zweiflügelig. Der schlanke dunkelorange Körper ist deutlich dünner als der einer Stubenfliege. Wir stellen außerdem  fest: sie sind farbenblind. Jedenfalls ist keine Vorliebe erkennbar, wenn sie sich auf der deutschen Nationalflagge am Heck niederlassen: ob schwarz, ob rot ob gold: die Fliegendichte ist auf allen Streifen gleich hoch.

 

Der Wind hat mittlerweile die ersoffenen Insekten zu langen Teppichen auf der Meeresoberfläche zusammengefegt. Forellengrosse Fische springen zu Dutzenden und halten ein größeres Festessen. Eine uralte beachtlich große  Meeresschildkröte beißt auch in das Fliegentuch. Auf Ihrem braunen Rücken wachsen lange Algen und dicke Muscheln. Ob auch die Schwärme von großen Rochen sich an der Kadaverbeseitigung beteiligen, können wir nur vermuten. Jedenfalls bieten sie uns ein tolles Schauspiel wie sie gut choreografiert eben unter der Wasseroberfläche im perfekten Formationsflug vorbeiziehen.
Erst als die Dunkelheit hereinbricht, geben die Fliegen ruh. Wir lernen zusätzlich, dass es sich um tagaktive Tiere handelt, die als Eintagsfliegen nach getaner Belästigung nachts mit kollektivem Selbstmord aufgeben. Gottseidank.

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Bericht 33

Logbuch der Luv

Hafen von Marin, Martinique

Wetter : Bedeckt,  Südost vier , 28 Grad, feucht

Stürmische Reise zwischen zwei Welten  

Die Distanz zwischen der ersten und der dritten Welt beträgt ziemlich genau 22 Seemeilen. Am ersten Weihnachtstag sind wir sie abgesegelt und wir erleben hautnah den Unterschied zwischen zwei benachbarten Karibikinseln, wie er krasser kaum sein kann. 

Die Luv verlässt St. Lucia am ersten Weihnachtsfeiertag, man könnte auch sagen: wir flüchten. Der 24. Dezember ist buchstäblich ins Wasser gefallen. Vom frühen Morgen bis zum anderen Tag stürzt unvorstellbar heftiger Regen aus vollständig geöffneten Himmelschleusen. Ein Jahrhundertwolkenbruch, untermalt von andauernden Blitzen und ununterbrochenem Donnerteppich. Wir hören von Häusern, die von aufgeweichten Berghängen rutschen, Brücken, die fortgerissen werden, die Hauptstadt ist abgesoffen, der Flughafen unterspült, Menschen sind in Gefahr. Fünf sterben in dieser Nacht. Acht weitere in St.  Vincent, der südlichen Nachbarinsel. Der Taxifahrer, der die Luv-Crew zum Festmahl fährt, berichtet traurig von einem Freund, dessen Taxi  in den Fluten versunken und verschwunden sei. Versichert sei er nicht gewesen und das Geld für einen neuen Wagen,  160000 EC-Dollar, habe  er nicht. Wir sind seine letzte Tour heute Abend. Er muss heim, retten was zu retten ist. Die Kirchen in diesem sehr katholischen Land sind sehr leer an diesem Heiligen Abend. Bis auf die in der Hauptstadt Castries, sie dient als Notaufnahmelager. 

Im Hafen von Rodney Bay schwappt am trüben Weihnachtsmorgen zwischen den Yachten in  brauner Brühe all der schwimmfähige Müll von St. Lucia. Erstaunliche Mengen an leeren Colaflaschen, Plastikschrott, natürlich auch natürliches: Baumstämme und Kokosnüsse. Es regnet noch immer, nicht mehr so heftig. Wir erfahren, nicht mal bei dem verheerenden Hurrikan Thomas, der vor drei Jahren die Insel verwüstete, gab es so viel Regen und Thomas hatte sich nicht einmal durch starken Wind sondern mit seinen gewaltigen Wassermassen in die Rekordbücher eingetragen. Noch immer sind seine Schäden nicht vollständig beseitigt, jetzt sind schlimme hinzugekommen. Eine Katastrophe für diese arme Insel. Meldungen darüber fanden übrigens nicht den Weg in deutschsprachige Medien. Ein zeitgleicher Stromausfall in  den USA und Canada schon. Wenn Entwicklungsländer in die Schlagzeilen wollen, müssen die Opferzahlen eben deutlich höher sein.

Jetzt also Martinique. Das erste was auffällt ist eine SMS von der deutschen Telecom. Die  Anrufe in der Europäischen Union  kosten uns  nur noch 0, 20 Cent. Das ist nun mal wirklich ein greifbarer Nutzen, den man Brüssel gutschreiben muss: Die Weihnachtsgrüsse von St. Lucia nach Hause wurden noch mit 5, 90 EUR berechnet. Pro Minute. Man glaubt ja nicht, wie kurz eine Minute ist.

Auffällig auch, was in St. Lucia allgegenwärtig und nun nicht mehr da ist: Keine paddelnden Händler, die im Hafen von ihren Plastikeinbäumen quasi im Minutentakt tropische Früchte an die Yachties verhökern wollen. Keine sonst arbeitslosen Dienstleister, die das Boot polieren, salzfrei spülen oder mit Essig  zu verschönern versprechen. Keine Männer, die ihre Dienste als Fremdenführer anpreisen, keine Frauen, die sich zur Verfügung stellen, sogar auf der Herrentoilette. Martinique ist Frankreich, Martinique ist Europa. Die Hafeneinfahrten sind ordentlich betont und beleuchtet. Die Taxen haben Taxameter. Erste Welt eben. Ein bisschen weniger bunt, ein bisschen weniger fremd.  Vertrauter. Das Wetter ist auch besser. 

Apropo Wetter: Meno Schrader, der Chef des Dienstes „Wetterwelt“ hat uns via Internet von Kiel aus einen Wetterbericht für die Passage zwischen den beiden Welten geliefert . Er liegt daneben. Höchstens fünf Windstärken sollten es werden, mal eine Bö, aber sonst ist ein schöner Törn vorhergesagt. Und was ist? In der Spitze zeigt der Windmesser 49 Knoten, Stärke Zehn!  Im Handbuch für Seefahrer gibt es dafür diese offizielle Definition: Schwere See,  sehr hohe Wellen, weiße Flecken auf dem Wasser, lange, überbrechende Kämme, schwere Brecher. 

Weihnachten auf See. Festtage in der Karibik. Pustekuchen.

Heiko Tornow 

 

Willkommen im magischen Paradies auf Union Island

Bericht 32

Logbuch der Luv

Vor Anker im Atoll von  Union Island

Wetter : Südost vier , 28 Grad, trocken

57 Menschen aus Afrika  starben innerhalb von nur zehn Monaten auf Union Islands Zuckerrohrplantagen an den Folgen schlimmer Behandlung durch ihre Sklaventreiber.  Das war im Jahre 1777. Mitten im zentralen Dorf der kleinen Grenadineninsel in der Karibik erinnert eine Steele an ihr schreckliches Schicksal. 

Die Sklaverei ist längst Geschichte,  Erinnerung nur die harte Arbeit; Zuckerrohr wird längst nicht mehr angebaut, gar nichts mehr wird auf Union Island in nennenswerten Mengen angebaut. Gefühlte Arbeitslosigkeit: Über 50 Prozent. Tourismus ist der Monopolwirtschaftszweig, Haupteinnahmequelle sind Leute wie wir, Yachties aus Europa und Amerika, angelockt von immerwährenden  Warmbadetagen  über buntbelebten Korallenriffs bei stetig freundlicher Passatbrise. „Willkommen an diesem magischen Platz.  Und vergiss, dass die Welt existiert“ , grüßt ein Schild am Ortseingang. 

 

Ich komme gerade vom Zoll und fühle mich von dem Spruch mächtig auf den Arm genommen. Wie wollen mit unserer Luv morgen früh zurück nach St. Lucia und Schiff und Mannschaft müssen ausklariert werden; wie immer eine lästige Pflicht für den Skipper. Beim Einklarieren in Chateaubelair hatten wir uns zu viel Zeit gelassen und dafür ein Bußgeld zahlen müssen. Heute bin ich Minuten nach derAnkunft beim Zoll und bei der Immigration – und jetzt ist der Strafbetrag mehr als doppelt so hoch. Es sei Sonntag, sagt der Beamte, und Sonntags kostet die Abmeldung mehr: „Overtime!“ Überstunden.  

 

Und wenn ich ihn heute nun nicht in seiner Ruhe gestört hätte und ich wäre erst morgen Früh erschienen? Nein, das geht schon gar nicht, das kostet natürlich „Overtime“, Verspätungszuschlag. Ich wäre geneigt, die Zumutung zu schlucken, die erschwingliche Summe abzubuchen unter privater Entwicklungshilfe für eine wirklich bettelarme Bananenrepublik. Wenn diese Beamten nicht so ausdrücklich, so ganz und gar vorsätzlich, so handgreiflich unhöflich wären.

Aber der Reihe nach: Zwei Zöllner sitzen ganz weit hinten in einem sonst sehr leerem, sehr großen Raum, blicken auf einen kleinen Bildschirm eines Tablet-PC. Ich sage freundlich: „Good day to you, gentlemen!“  Die beiden zeigen keine Reaktion. Ich sage freundlich und jetzt laut: „Good day to you, gentlemen!“ Der uniformierte der beiden Männer greift mit der Hand in eine Kiste und schiebt ein Formular herüber. „Ausfüllen.“, sagt er, der Blick bleibt auf dem Bildschirm. Ich höre jetzt auch den Ton eines Actionfilmes. 

Es ist das gleiche unsägliche Formular, das ich schon beim letzten mal ausgefüllt habe, dieselben Namen und Daten und Passnummern aller Crewmitglieder, Länge, Breite und Tiefe der Luv, woher und wohin  – alles Daten, die der souveräne Staat St. Vincent schon längst mit vierfach durchgedrücktem Kohlepapier in seinen Akten nachschlagen und mit der NSA austauschen könnte. Ich zeige das Einreisepapier mit wenig Hoffnung: “ Einfach kopieren?“ Geht natürlich nicht, ein Kopierer ist nicht vorhanden, nur der Tablett-PC, der Ton des Baller-Films ist jetzt ziemlich laut gedreht.

Der Vorgesetzte der beiden sitzt in einem klimatisierten Büro, er ist der mit der „Overtime“. 63,45 EC-Dollar will er haben, ich gebe ihm zwei Fünfziger. „No Change.“, sagt er, er kann nicht wechseln. Er bittet mich nicht etwa, er schickt mich nach schräg gegenüber zur Immigration, zum Einreisebeamten: “ Get Change.“. Der Mann dort hat tatsächlich Kleingeld, aber nicht klein genug. Der Rest von 1,55 EC-Dollar wird einbehalten. 

Auf dem Rückweg sehe ich wieder das Schild. “ Vergiss, dass die Welt existiert.“ Das fällt nicht ganz leicht an diesem magischen Platz.  

Heiko Tornow