Der Fremde ist übers Meer zu uns gekommen. Völlig erschöpft, zu schwach um Nahrung aufzunehmen, zu müde, um zu trinken, zerzaust, die Haare unordentlich, so hockt er scheinbar teilnahmslos, tonlos, hoffnungslos, abgemagert, auf der Bank im Cockpit der Luv, dunkelbraun, fast schwarz. Die Augenlieder fallen ihm zu. Der Kopf fällt herunter.
Michael sagt: „Der stirbt uns weg.“ Ich sage: „Der ist zäh.“
Wie um alles in der Welt es der Blinde Passagier offensichtlich mit seiner allerletzten Kraft zu uns an Bord geschafft hat, bleibt ein Rätsel. Hier, mitten in der Sargossasee, gut 400 Meilen vom nächsten Land entfernt, erwartet man keine Migranten.
Was hat er für eine Geschichte? Was wurde aus seinen Gefährten? Wo will er hin? Wir können ihm auf unserem Boot nur vorübergehend Asyl gewähren. Die Einwanderungsbehörden in Antigua, unserem Reiseziel in der Karibik, verlangen von jedem gültige Papiere und sie sind überhaupt strikt gegen die illegale Einfuhr von nicht einheimischen Vögeln. Wir werden uns da was einfallen lassen müssen.
Aber zuerst kommt es darauf an, der Schwalbe das nackte Leben zu retten. Unsere begrüssungskulturelle Kompetenz ist gefordert. Im Kühlschrank lagert ein Hühnerbein, ich schneide ein Fitzelchen ab und biete es unserem kleinen Gast an. Null Reaktion. Ich träufele ein Tropfen Wasser auf den Schnabel. Die Schwalbe öffnet die Augen, schließt sie
wieder. Interessant übrigens, dass sie ihr Lid nicht von oben über die winzige schwarze Linse schiebt, das Lid bedeckt sie von unten nach oben.
Der Vogel hat noch gar nicht wahrgenommen, dass er in Sicherheit ist. Apathisch ignoriert er alle Hilfsangebote. Nach einer Stunde aber kommen die Lebensgeister zurück. Er pickt nach dem Hühnchen, es ist ihm zu groß. Erst als ihm der Happen mundgerecht gereicht wird, vielleicht streichholzkopfgross, kriegt er ihn herunter. Noch ein Stückchen, und noch eins, und noch eins. Dann fallen ihm die Augen wieder zu. Dass heißt, sie fallen , wie gesagt, natürlich nicht zu. Es ist inzwischen dunkel geworden. Die Nachtwache zieht auf. Wir legen die Rettungswesten an, wie immer, wenn die Sonne untergegangen ist. Als wir uns wieder um die Schwalbe kümmern wollen, ist sie fort. “ Siehste.“ , sagt Michael. „Wart’s ab.“, sage ich.
Drei Tage später ist die Schwalbe immer noch an Bord. Sie flattert ums Schiff herum. Jetzt ganz offensichtlich flott und fröhlich, entfernt sie sich außer Sichtweite, kommt zielsicher zurück immer dicht über der Wasseroberfläche zickzackige Haken schlagend.
Ganz nebenbei widerlegt der Vogel die alte deutsche Bauernweisheit, wonach tiefliegende Schwalben auf schlechtes Wetter, Regen zumal, hinweisen. Das Wetter bleibt schön, warm und trocken.
Nach ihren kleinen Seeausflügen ruht sich sich die Schwalbe mal auf dem Seezaun, mal auf dem Steuerrad, mal auf der Grossschot aus. Und immer schaut sie – ich möchte fast sagen: fordernd – nach mir und meinem Finger, ob von dort nicht wieder ein Fleischstückchen abzupicken ist.
Huhn ist aus. Wir hatten gestern Hühnersuppe. Fliegen und Mücken, die Leibspeise unseres Passagiers, sind absolute Mangelware soweit draußen auf See. Gulasch mag der Vogel gern gut vorgekaut, sonst kriegt er die rohen Brocken nicht herunter. Michael fürchtet schon maulig um die Größe seiner Ration, weil er mit dem Migranten teilen soll. Ich sage:
„Du Seehofer, du.“
Was ist mit Getränken für das Tier? Eine an Deck platzierte Wasserschale bleibt unberührt. Ich wässere jetzt das Fleisch. Der Vogel ist nachgerade begeistert. Während ich dies schreibe, sitzt er keine 20 Zentimeter vor mir auf dem Tisch und bedeutet mir: “ Nu aber mal! Nachschlag.“ Jetzt hockt er auf dem linken Daumen, pickt hinein. Jetzt krallt er sich auf dem lederbespannten Steuerrad fest, lässt sich mal nach Steuerbord, mal nach Backbord rucken.
Und dann kackt er auf das Teakdeck. Eggert sagt zu mir: “ Das hast du nun davon. Bring ihm mal bei, sich an unsere Sitten und Gebräuche zu halten.“ Ich sage etwas von Toleranz, die von uns allen gefordert ist und: „Niemand hat gesagt, dass es einfach wird, Flüchtlingen zu helfen. Aber wir schaffen das.“
Die freundliche Aufnahme einer verirrten Schwalbe an Bord der Segelyacht Luv hat sich in Kreisen heimatloser Federtiere rasch herumgesprochen. Kaum haben wir den einen Migranten freundlich gefüttert und für die Nacht ein warmes Zeltlager unter dem Beiboot auf dem Vorschiff gewährt, haben wir einen zweiten an Bord. Um im Bild zu bleiben: Anders als die ortsfremde Schwalbe kommt dieser Seevogel vom Stamme der Tölpel aus einem sicheren Herkunftsland und hätte von rechts wegen nur eine sehr minimale Aussicht auf Anerkennung als Asylbewerber. Aber Rechtsfragen kümmern diesen eleganten Segler nicht. Er setzt sich frech auf den halbrunden Dom der Satellitenanlage am Heck der Luv und betrachtet sich von dort oben die Landschaft. Das heißt: er schaut von dort oben auf das Wasser und seine Nahrung, die darin schwimmt.
Was uns für diesen Schutzsuchenden einnimmt: Er spekuliert nicht auf private Spenden und öffentliche Beihilfe. Er ist ein Selbstversorger. Er wartet, bis mal wieder ein Fliegender Fisch in der passenden Größe vor dem Bug der Luv Reißaus nimmt und sich bei der Flucht aus seinem eigentlichen Element wagt. Dann steigt der Tölpel auf, legt die Flügel an und stößt mit Hochgeschwindigkeit steil auf seine Beute. Jeder dritte dieser Fischzüge ist erfolgreich.
Gegen Abend hockt sich der Vogel vorn beim Anker auf ein Brett und geht schlafen. Auch er scheißt aufs Teakdeck. Eine See kommt über das Vorschiff. Alles ist wieder sauber.