Warmduscher

Chester gibt den Rat, besser noch einen weiteren dicken Festmacher  auszubringen. Wenn der Sturm heute Nachmittag einsetzt, warnt der Hafenmeister der Liscomb Lodge Marina, könne es gewaltig den Liscomb River hinunter wehen. Müssen wir Chester glauben? Übertreibt er da nicht ein wenig? Ist doch schon der Begriff „Hafenmeister“ eine ebenso heftige Übertreibung wie die Bezeichnung „Marina“ für den einen kurzen Schlengel, an dem die LUV als einziges Schiff weit und breit festgemacht hat. Und ausserdem: So tief ins Land wird der Sturm schon nicht kommen.

Andererseits: Chester ist schon seit 42 Jahren Herr über diesen in keiner offiziellen Seekarte vermerkten Anleger und eine „wertvolle Quelle des Wissens“, wie unser Seehandbuch aus den wenigen Erfahrungsberichten von Seglern zitiert, die es in diese „Wilderness Area“ verschlagen hat. Also wird die LUV zusätzlich gesichert, sogar mit zwei Extraleinen.

Wir hatten uns ursprünglich von dem Restaurant anlocken lassen, dass es hier geben sollte. Das aber ist noch im Winterschlaf, ebenso wie das dazugehörige Hotel. Chester ist aber so lieb, die Dusche für uns aufzuschließen. Er will uns sogar sein privates Auto zur Verfügung stellen, damit wir im einige lange Meilen entfernten Shop unsere Vorräte aufstocken können.

Die LUV ist aber gut ausgerüstet. Und geduscht haben wir erst vorgestern, selbst James duftet noch nach Seife. Also schlage ich in der Früh vor, wieder abzulegen, Sturm hin oder her. Eggert hat herausgefunden, dass es erst gegen 17 Uhr wirklich unerträglich blasen soll. Bis dahin könnten wir, schlage ich vor, doch noch ein  gehöriges Stückchen weiter segeln, grobe Richtung Grönland. Einsame Buchten und sichere Ankerplätze fänden sich unterwegs gewiss dutzendfach.

Zisch sagt leise aber bestimmt, er würde lieber laufen. Rosi schüttelt nur den Kopf und sucht in der Bordapotheke nach Beruhigungsmitteln für mich. Auch James erweist sich – wie die gesamte Crew – als Schisser. Er wolle gerne in dieser sicheren Einöde bleiben oder Bahn fahren, als auf stürmischer See Kopf und Kragen zu riskieren. Alle meine Beschwörungen nutzen nichts. Ich bin der einzig wirklich mutige Seemann an Bord, muß aber, leider leider, nachgeben. Zum Trost gehe ich jetzt erst mal warm duschen.

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Klohstein und Marzipan

Segeln im hohen Norden Kanadas ist der komplette  Gegenentwurf zum Schippern in der warmen Karibik. Natürlich ist es kalt vor der Küste von Nova Skotia. Sehr kalt. Das Meer hat eine Temperatur von nur sieben Grad. Das erfahren wir aus dem Wetterbericht der kanadischen Küstenwache. Unser Bordthermometer war im vergangenen Jahr vor Martinique bei 33 Grad Wasserwärme stehen geblieben und ist seither eine dauerhafte Erinnerung an ein sehr angenehmes südliches Klima.

Die Luft hier, die mit ziemlich hoher Geschwindigkeit unsere LUV schiebt, fühlt sich dagegen ausgesprochen eisig an. Die Meteorologen berichten von 69 Eisbergen, die nicht sehr weit nördlich von uns den Seeweg nach Neufundland unsicher machen.

Eggert hat sich mit Rentierfellmütze aus Polyamid aber ohne Ölzeug ans Ruder gestellt. Zwei Stunden geht es gut, dann steigt eine grobe See ins Cockpit ein und durchnässt seine Jeans und seine Schuhe. Tapfer meint er, nun sei es eben passiert, aber nach ein paar Minuten lässt er sich doch ablösen. Feuchte Hosen entziehen im Wind den Beinen erstaunlich viele Kalorien in unglaublich kurzer Zeit. Mit den Füßen in nassen Schuhen ist es ähnlich.

Um den Energieverlust auszugleichen, verteilt Rosi Süßigkeiten. „Livesavers“, heißen die quietschbunten Gummiringe, Lebensretter. Auf der Tüte steht, es gäbe fünf geschmacklich verschiedene. Wir sind übereinstimmend der Auffassung, alle schmecken wie Klohstein mit Marzipan.

Unser Ankerplatz nach nasskalten 57 Seemeilen gibt uns die Illusion, wir wären allein auf der Welt. Eine traumhafte Ruhe ringsum. Ein Weisskopfseeadler liefert sich einen sehenswerten  Luftkampf mit einer deutlich kleineren  Krähe, die ihr Nest verteidigt. Überall mit Nadelhölzern dicht bewaldete Schären. Rosi zeigt sich tief bewegt und sagt, jetzt wisse sie endlich, warum sie hierher gereist sei. Pope Harbour heißt  sehr treffend dieser himmlische Platz, Papsthafen. Dann stört ein Lobsterfischer, der mit sehr lautem Motorgebrüll seine Körbe kontrolliert, die heilige Stille. Wenn das der Franziskus wüsste.

Ein Geniestreich

„So, Sie wollen schon los? Damit haben wir gar nicht gerechnet. Ihr Schiff liegt noch in der Halle.“ Den Empfang durch den Werft-Manager Darrin haben wir uns irgendwie anders vorgestellt. Vor Wochen schon hatten wir schriftlich unsere Ankunft in Nova Scotia für den 15. Mai avisiert. Vier Mann und Rosi erscheinen denn auch pünktlich früh am Morgen und tatendurstig mit Sack und Pack in der Gold River Marina. Wir wollen die LUV nach dem langen Winter wieder fit machen für die kommenden Segeletappen in der Neuen Welt. Und nun das. Die LUV stehe ganz hinten in der Halle, sagt der freundliche Darrin. Es sei geplant, das Schiff nach dem Victoriaday, dem Nationalfeiertag, ins Wasser zu lassen. Also erst in vier Tagen.

Die Gesichtszüge der LUV-Crew entgleisen kollektiv. Die Körpersprache schaltet von frohem Tatendrang auf totale Depression. Ich muß mich erst mal setzen. Warum, so frage ich, seien wir wohl hier und heute und mit reichlich Vorwarnzeit eingetrudelt? Um zu warten?

„Sightseeing?“ schlägt Darrin vor, merkt aber gleich, dass das eine besonders blöde Idee ist. Und er merkt auch, dass er umdenken muß, wenn er heile aus der Sache rauskommen will. Es geht dann doch. Am Abend rollt die LUV mit dem Transportwagen aus der Halle. Man sei eben spät dran in diesem Jahr, entschuldigt sich der Manager, der Winter sei furchtbar lang gewesen und sehr schneereich. „Drei Meter hoch.“, sagt Darrin und weist auf die Schneereste auf dem Werftgelände hin, die Ende Mai tatsächlich noch längst nicht weggetaut sind.

Mit dem nächsten Hochwasser schwimmt die LUV im Gold River und wir beginnen mit dem Einräumen. Ein Dutzend Segel, gefühlt 20 Kilometer Leinen, ein Berg von Kojen und Kabinenpolstern – alles, was James und ich im Herbst von Bord in einen trockenen Stauraum an Land geschleppt hatten, muss jetzt wieder zurück an seinen jeweiligen Platz. Mit Frühjahrsputz und Einräumen, mit Deckwaschen, der Reparatur von elektronischen Geräten und dem Beschaffen von Ersatzteilen sind fünf Personen vier Tage lange gut beschäftigt.

Das größte Problem sind die Wantenspanner. Der Gau war bereits im Herbst beim Einmotten der LUV für das Winterlager passiert. Die Werftmannschaft hatte beim Mastlegen die winzigen Schrauben übersehen, mit denen die Wanten gegen unabsichtliches Losdrehen gesichert sind. Mit roher Gewalt und grobem Werkzeug am langen Hebel überwanden die kräftigen Kanadier den metallenen Widerstand und hobelten so die Steigungen der Gewindebolzen glatt. Damit läßt sich nun kein Mast mehr verstagen. Aus Hamburg hat die Frühlings – Crew neue und sündhaft teure Bolzen mit nach Nova Scotia im Fluggepäck. In ganz Nordamerika hatte sich kein Profi auftreiben lassen, bei dem sich die Reparatur des Riggs hätte in Auftrag geben lassen. Wir müssen selber ran.

Die Erbauer unserer X-Jacht haben garantiert nicht damit gerechnet, dass irgendwann einmal im fernen Nova Scotia unkundige Segler diese unmögliche Aufgabe lösen müssen. Sonst hätten sie gewiss nicht die langen schweren Gewindestangen,  welche die gewaltigen Kräfte des Riggs zum stählernen Kielrahmen unten im Schiff führen,  so komplett unzugänglich hinter Einbauschränken, Bodenbrettern, Deckenverkleidungen und Kojenkisten versteckt. Um unsere Ersatzteile einbauen zu können, müssen die fest verschraubten Stangen komplett ausgebaut werden. Natürlich existiert kein Handbuch, keine Zeichnung, keine Anleitung mit klugen Tips für diesen Job. Nach einem zeitraubenden Prozess von Versuch und Irrtum gelingt es, die Stangen aus dem Deck zu ziehen, mit dem sie am oberen Ende – als zusätzliche Schikane – beinahe unlösbar verklebt sind.

Unlösbar sind nun aber auch noch die langen Stangen mit dem Metallgehäuse verkeilt, in dem der  kurze defekte Gewindebolzen steckt. All unsere Kraft reicht nicht. Kein Werkzeug hilft. Alle Mühe umsonst. Wir können nichts auswechseln. Wir können den Mast nicht setzen. Eigentlich könnten wir jetzt tatsächlich nur noch ein wenig Sightseeing machen und zurück nach Hamburg fliegen.

Wenn die Not am Größten, ist die Rettung am Nächsten. Ein Bootseigner, dem ich unser Leid klage, kennt einen Schlosser, der sei ein Genie für jeden Metalljob. Auch am Sonnabend um 16 Uhr? Tatsächlich. Wir finden das Genie – ein Baum von einem Kerl – noch im Dienst und hilfsbereit. Er betrachtet sich die Sache, sagt keinen Ton und schweisst und hämmert und schleift und bohrt und poliert eine geschlagene lange Stunde. Dann ist er fertig und will nur 60 Dollar auf die Hand.

Als am nächsten Morgen ein großer Kran den 22 -Meter-Mast in die LUV hebt, lassen sich die Wanten ohne Anstrengung mit den neuen Gewindebolzen verbinden. Wie geschmiert. Am Abend ist die LUV wieder fit und seeklar für die nächste lange Reise.

Heiko Tornow

Petri-Heil

James hat richtig viel Geld ausgegeben für die von ihm so geschätzte Jagd auf Fische. Drei Hochseeruten, vier Hochleistungsrollen, gefühlt 70 künstliche Köderfische in allen Farben des Regenbogens und einige 1000 Meter Angelleine allerbester Qualität schleppte er in Hamburg mit an Bord.

Die Idee war, während der Reise der LUV durch die jeweiligen Weltmeere für frischen Proviant zu sorgen. Das ist leider gründlich schiefgegangen. Weder in der Nordsee, noch in der Biskaya, schon gar nicht auf dem Atlantik oder in der Karibik ging ihm auch nur die kleinste Makrele an den Haken. Nicht, dass nicht der eine oder andere Meeresbewohner angebissen hätte. Aber wann immer dies geschah, riss die angeblich bruchfeste Leine mitsamt dem teuren Glitzerköder ab. Die LUV segelte einfach zu schnell, Thun- oder Schwertfische boten dann dem schwachen Geschirr einen zu großen Widerstand.

Auf Rede vor Anker oder dümpelnd auf hoher See in der Flaute hat James es auch probiert. Wann immer möglich holte er sich Rat von den heimischen Fischern. Aber entweder haben die ihn reingelegt oder zuvor die See und die Flüsse leergefischt. Jedenfalls blieb alles Bemühen erfolglos.

Nun ist es ja den Anglern angeblich schnuppe, ob sie etwas fangen oder nicht und langweilig ist es ihnen angeblich auch nie dabei. Aber wir hatten schon den Eindruck, dass James den Fischen ihre nachhaltige Zurückhaltung allmählich doch übel nahm.

Am letzten Tag der letzten Etappe unserer Reise, ist alles anders. James hatte sehr lange und ausführlich die Karte erforscht und vor der sonst sehr tiefen Küste auf dem Sockel der Neufundlandbänke einen kleinen Berg ausgemacht: „Dort steht der Fisch!“  Seinem dringlich vorgetragenen Antrag, wenigstens für eine halbe Stunde beizudrehen, konnte niemand ablehnen. Auf lediglich 17 Metern Wassertiefe wirft der Petrijünger seine letzte funktionsfähige Angel aus. Und kaum ist der Blinker unten, meldet er hochzufrieden und sehr glücklich: „Hat ihn!“ Fünf kapitale Fische landen in den gewährten 30 Minuten in der Bordpütz. Am Abend gibt es Dorsch in Dill-Senfs-Soße satt. Am nächsten Tag auch. Am dritten Tag sind wir der Meinung, 15 Minuten hätten es auch getan.

„Wie Sie sehen, sehen Sie nix“

Ich erinnere mich an eine Nebelfahrt vor Jahren entlang der norwegischen Küste. Die Sicht reichte gerade mal vom Ruder bis zum Vorsegel. Um uns herum nur dunkelgraue, kalte, nasse Suppe. Wir hatten keine Ahnung, wo genau wir waren. Aber wir wussten, überall vor den Fjorden lauern felsige Untiefen. Alle an Bord lauschten angestrengt ins Nichts. Sind da vielleicht Brecher voraus, die uns verraten, dass wir gleich auflaufen und das Boot zerschellt?  Rainer, der Skipper, sagte in dieser Situation den blöden Satz: „Ich habe keine Angst vor dem Nebel.“ Seine Crew hatte ihn sofort danach abgesetzt, jedenfalls moralisch. Wir sind davon überzeugt: Die Farbe dieses Wetters hat dem Grauen seinen Namen gegeben.

Heute ist es wieder mal soweit: Nebelfahrt. Die Südküste von Nowa Scotia zeigt sich von ihre unangenehmen Seite: Vom Osten rollen hohe Wasserberge heran, die Erinnerung an den Orkan der vergangenen Nacht; vom Süden bläst ein neuer Wind schon wieder mit Sturmstärke und setzt auf die alte lange Welle eine neue kurze und steile, die sich tosend bricht und kalte Gischt verspritzt. Die LUV schaukelt, giert und bockt und steuert ins Nirgendwo. Die feinen Tröpchen kondensieren auf Klamotten und Haut, verdichten sich auf Rigg und Segeln zu dicken Tropfen und regnen auf uns herab.  Weisse schlanke Tölpel tauchen aus dem Grau auf, tippen kurz mit einer schwarzen Flügelspitze auf einen Wellenkamm und verschwinden wieder in der undurchsichtigen Luft. Wer hat diesen eleganten Vögeln bloß den unsinnigen Namen verpasst?

Eigentlich sollte genau hier eine rotweisse Untiefentonne stehen, mit einer Glocke ausgerüstet und mit vier Schlegeln, die laut im Wellengang abwechselnd gegen die Bronze schlagen. James sagt: „Wie Sie sehen, sehen Sie nix.“ Wir hören auch nix. Entweder die Tonne ist schon vor der LUV abgesoffen oder wir sind hier völlig am falschen Ort. Sicherheitshalber
setzt Claus, heute unser Navigator, einen Kurs  weiter hinaus auf See ab.Dort ist die Sicht zwar auch nicht besser, aber der Meeresboden ist weiter weg.

Ein leises Pfeifen dringt an unsere Ohren. Erst wähnen wir, der Wind nutze mal wieder den Mast der LUV als Blasinstrument. Das Geräusch wiederholt sich aber genau alle Minute und es wird allmählich lauter. Die Seekarte verrät uns: Das ist der Leuchtturm von Western Head, versehen mit einem Nebelsignalhorn. Das muss ein gewaltiges Instrument sein. Gegen
den strammen Sturm mit gut sieben Beaufort ist der Heulton auf eine Entfernung von über fünf Meilen auszumachen.
Als wir beinahe auf Steinwurfweite an Western Head herangesegelt sind, hat sich der Nebelvorhang wie von Zauberhand gehoben. Die Sonne scheint. Das Nebelhorn tutet weiter in unsere Ohren. Völlig überflüssig und wirklich viel zu laut.

Whalewatching

Die LUV pflügt mit guter Fahrt durch die Fundy-Bucht. Wir haben die USA
verlassen. Vor uns 80 Meilen bis zum ersten kanadischen Hafen, Yarmouth,
auf der Insel Nova Scotia. In der Seekarte steht: Whalefeeding Area. Hier
füttern sich also die Wale fett. Mal sehen, ob wir auf unserem Törn
welche beobachten. Touristen können sich in beinahe jedem Hafen in der
Gegend für bis zu 50 Dollar pro Tour mit Whalewatchbooten hinaus auf den
Atlantik schippern lassen und – wenn sie nicht seekrank werden in der
langen hohen Dünung – Meeressäuger beoachten. Wir wollen unbedingt auch
welche sehen, kostenlos.
James sieht erst mal gar nichts. Er sucht seine Brille. Um fünf Uhr
früh, lange vor Sonnenaufgang, sind wir ankerauf gegangen, haben das
Schiff seeklar gemacht und die Segel gesetzt. Alles ohne James. Der bleibt
unter Deck, hebt alle Polster hoch, leuchtet mit der Taschenlampe in jedes
Schwalbennest. Wir erinnern ihn, dass er gestern Abend mit uns noch im
stCockpit gesessen  und den absolut atemberaubenden Sternenhimmel
bewundert habe. Ob er da seine Brille…? Oder vielleicht in der
Toilette…? Zwischen den Unterhosen in der Schmutzwäsche…?

James, sonst ein ewig ruhiges um nich zu sagen phlegmatisches Temperament, wird allmählich nervös. Er flucht und schimpft wie der alte Seebär, der er ja auch ist. Ohne Brille geht es nicht. Ich helfe beim S uchen. Wir gehen gemeinsam noch einmal alles durch, das ganze Schiff von vor bis achtern. Vergeblich.
Eggert steht am Ruder und ruft: „Da, der erste Wal.“ Ich stürze nach draussen. Tatsächlich, keine 50 Meter voraus an Steuerbord der schwarze Rücken eines riesigen Tieres.Er ist kurz nur sichtbar, schnauft einmal laut und nass, dann ist er abgetaucht.
Ich halte konzentriert Ausschau. Meine Sicht ist nicht gut. Ich nehme meine Brille ab um sie zu putzen. Da ist es die von James.

Na ja.
Heiko Tornow

Im Auge des Orkans

Das Sturmtief kündigt sich schon am Vormittag mit den mittelhohen Stratos-Wolken seiner klassischen Warmfront an. Nach den frostigen Temperaturen, die der Nordwind in den vergangenen Tagen von Alaska nach Nova Scotia geschaufelt hatte, sind wir dankbar. Für ein paar Stunden sind statt des dicken Ölzeug mal wieder leichtes Hemd und kurze Hose im
Cockpit zu sehen. James geht sogar noch einen Schritt weiter. Vier bis fünf angenehme Windstärken aus sehr angenehmer Richtung. Mal wieder ein herrlicher Tag auf See.

Aber mit dem Wind ist es leider wie mit dem Wetter: Sehr veränderlich. Gegen Abend frischt er auf. Die ersten Tropfen fallen. Dann schüttet es. Claus hat vergessen, eine Luke rechtzeitig zu schließen. Die eben mühsam getrockneten Spinnacker triefen wieder. Wer jetzt am Ruder steht, trieft auch. Die Luft wird immer schneller. Sieben, acht, dann neun Windstärken.
In den ganz harten Böen messen wir 52 Knoten, dass sind elf Beaufort. Nur noch ein kleiner Schritt und wir befinden und mitten im schönsten Orkan. James sagt:“De arme Lüüd an Land.“ Die Urgewalt des Meeres, aufgepeitscht durch starken Wind, ist schon oft beschrieben worden. Mir ist in der heutigen Sturmnacht vor allem der Lärm aufgefallen, der vom Wind erzeugt wird. Er bringt die stählernen Stangen, die den Mast halten, in zitternde, jaulende, kreischende Schwingungen.
Sehr durchdringend, auf und abschwellend, gelegentlich schrill quietschend und schräg kreischend. Der Rumpf der LUV ist verstärkender Resonanzkörper für diese Kakophonie. Das alles verbindet sich mit dem taktlosen Schlagen der Fallen gegen den holen Mast. Unter Deck hält es da niemand aus. An Deck auch nicht. Der Regen fliegt waagerecht als ziemlich
undurchsichtige Wasserwand, die kaum noch Luft zum Atmen enthält. Wie schön, dass wir lange vor dem Sturm im sehr sicheren Hafen von Lokkeport angekommen sind. Wir essen guten Dorsch in der Fischerkantine „Weisse Möve“, die sich als Restaurant getarnt hat. Danach Skat im trockenen Salon der LUV.  Wir reizen etwas lauter als sonst. Den Fallen untersagen wir mit ein paar Handgriffen das Lärmen. Orkan im Hafen ist durchaus auszuhalten.

Über Vorurteile und Garmethoden

Die Amerikaner, so lautet ein gängiges Vorurteil, sind gegenüber Fremden durchaus sehr und oft sogar überschwänglich freundlich – aber diese Herzlichkeit sei oberflächlich. Man könne nichts geben auf die allenthalben zur Schau gestellte Gastfreundlichkeit, das seien zumeist Lippenbekenntnisse.

Zweimal wurden wir allein in den vergangenen beiden Tagen eines besseren belehrt. In Bar Harbour, dem mondänen Millionärs-Domizil auf Desert Island, frage ich den Hafenmeister nach dem Weg zum berühmten Nationalpark. Busse fahren gerade nicht, Taxen sind nicht zu bekommen. Ich mache mich auf den drei Meilen langen Fußmarsch. Da springt der
Hafenmeister auf, schließt sein Büro ab, läuft hinter mir her und lädt mich in sein Auto: „Ich fahr Sie mal eben hin.“ Die Amis halten es einfach nicht aus, einen Menschen laufen zu sehen.

Gestern Abend gehen wir nach einem kalten 40 -Meilen-Trip in dem kleinen Fischerort Jonesport an Land. Die überaus freundliche Lady in der Werft, für deren Mooring wir zwanzig Doller bezahlen, stellt sich als Patricia vor. Sie freut sich über den seltenen Besuch aus dem alten Europa und sie bemüht sich, unsere fremdländischen Vornamen auswendig zu lernen. Wir fragen nach einem Restaurant in der Nähe. Oh, leider, das einzige das Jonesport hatte,  sei vor zwei Jahren abgebrannt. Aber im Nachbarort sei eines, nichts schickes aber ganz ordentlich. Ob wir denn einen Führerschein hätten? Haben wir – und Patricia reicht uns den Schlüssel ihres Volvo und beschreibt uns den Weg. Kein Papier will sie sehen, nichts sollen wir unterschreiben. Sie verleiht ihr – zugegeben nicht mehr ganz neues – Auto einfach so, umsonst. Weil wir Gäste sind und wir dort, wohin wir wollen, anders nicht hinkommen. Patricia warnt uns allerdings vor den besonderen Gefahren in dieser
Gegend. Die Leute fahren wir verrückt in Maine, sagt sie, aber noch viel gefährlicher seien zur Zeit die Elche: „Sehr schöne Tiere, aber riesengroß, wenn die auf einmal aus dem Wald rennen und vor einem auf der Strasse stehen.“
Der Nachbarort ist 21 Meilen weit weg und die ganze Zeit fürchten wir uns in der Dämmerung vor jedem Schatten am Waldrand. Seefahrt ist doch irgendwie sicherer. Anderntags kocht Patricia uns auch noch in ihrer Küche in einem sehr
großen Wasserkessel die zehn Hummer, die wir bei der Fischereigenossenschaft frisch aus den Tanks für kleines Geld gekauft haben.
Ein alter Schwede, Arbeiter in der Werft, hatte uns die angeblich beste Garmethode für die Krustentiere nahegelegt: „In einen Topf mit zwei Finger breit Wasser geben und dann 19 Minuten lang mehr dämpfen als kochen.“ Lebendig? Lebendig, selbstverständlich!
Patricia hat es aber so gemacht, dass auch Tierschützer einverstanden sein können. Nach Johnsport hatte es uns übrigens nur verschlagen, weil – laut Hafenhandbuch – hier der Zoll die LUV und ihre Crew vor der Ausreise nach Kanada abfertigen soll. Dieser umfänglich bürokratische Akt kann nur in wenigen Häfen geschehen. Wir rufen bei der Zoll- und Heimatschutzbehörde an und erfahren, dass mit dem Zollhafen Johnsport sei schon lange her. Wir sollten uns mal keinen Kopf machen.

Gute Reise!!

ps. Am späten Nachmittag setzt Patricia noch einen drauf. Auf dem Werftgelände ist für uns vier LUVianer unter azurblauem Himmel ein Picknicktisch gedeckt mit Wein, Chips, geschmolzener Butter für die Hummer und mit blauweisser Tischdecke. Soweit zu oberflächlich gastfreundlichen Amerikanern.

Fisherman’s Friend

Den Tag über schippern wir mit der Luv durch das eiszeitlich anmutende Granitarchipel im komplett bewaldeten südlichen Maine. Es ist nicht einfach, einen sicheren Kurs um die zahlreichen Schären und die noch weit häufigeren bunten Bojen zu finden, mit denen die einheimischen Fischer ihre Hummerkörbe hier markieren. Wir sind im Lobstercountry, dem
Schlaraffenland für unseren Segelkameraden Eggert. Krustentiere sind sein ein und alles. Schon zu Beginn unserer Reise in der Bretagne oder in Portugal steuerte er immer zielsicher genau die Häfen an, in denen die besten Krebse, Langusten, Scampi, Garnelen und – vor allem – Hummer auf den Märkten feilgeboten wurden. Auf St. Lucia in der Karibik kaufte er
einem Fischer den ganzes Tagesfang ab. Ein volles Dutzend der vielgliedrigen und tentakel-besetzten Panzertiere landete noch lebendig im Cockpit der LUV. Sie umzubringen, in unserem viel zu kleinen Kochtopf zu garen und die Viecher ohne wirklich geeignetes Werkzeug mundgerecht zu zerlegen war schon eine ziemliche Sauerei.  Sie haben aber, zugegeben,
wirklich toll geschmeckt.
Am späten Nachmittag liegt die LUV an der Mooringtonne vor dem Hafen der kleinen Lobsterstadt Stonington. Er könne, sagt Eggert bescheiden, zum Abendessen auch mit ner Schnitte Brot auskommen. Das wird er wohl auch müssen. Draussen regnet es in Strömen. Der Wind bläst einem die Tropfen waagerecht ins Gesicht. Keiner hat Lust auf den weiten Weg ins Dorf und wer weiss, ob es dort eine ordentliche Kneipe gibt.

Wir schauen in unseren Vorräten nach, ob da was zu Abendbrot taugen könnte. Eggert kniet vor dem Schapp und gibt bekannt: Zwei Dosen rote Bohnen. Eine Dose grüne Erbsen. Eine sehr kleine Dose Hühnersuppe, leicht verrostet. Sauerkraut. Tomatenpürree, Oliven. Ananassscheiben im eigenen Saft. Keine Fleisch, keine Wurst, kein Fisch.
Der Vorschlag wird laut, Erbsen mit Ananas zu kochen. Oder mit den Oliven die Hühnersuppe zu verlängern. Oder das Sauerkraut mit dem US-amerikanischen Kalorienhit „Aunt-Jemima-Syrup“ zu verfeinern. Eggert wiederholt tapfer sein Angebot mit den Brotschnitten.
Dazu kommt es dann doch nicht. Wir besinnen uns darauf, keine Weicheier zu sein, ziehen uns dickes Ölzeug und die schweren Seestiefel an und steuern das Beiboot durch das Sauwetter in Richtung Pier. Zehn Schritte entfernt
von dem Dinghi-Dock, der Anlegestelle, wartet „Fischermans Friend“ auf uns. Die Lobsterbojen-Dekoration an den Wänden des hölzernen Gasthauses verrät uns, was auf der Speisekarte zu finden ist. Eggert braucht keine
Karte. Er weiss was er will.

Heiko Tornow