Petri heil!

Kapitaler BarrakudaDie Köder in James‘ Angelkoffer sind schon durch etliche tausend Meilen Salzwasser gezogen worden. In der Nordsee wollten wir den Kabeljau fangen. In der Biskaja machten wir Jagd auf die Makrele. Im nördlichen Atlantik um Madeira hoffte James auf einen Biss des Schwertfisches. Im Seegebiet der Cap Verden wollten wir ran an den Thunfisch und während der langen Strecke im Nostpassat  während der Wettfahrt in die Karibik wäre uns jeder Fisch recht gewesen, hätte nur einer gebissen. Aber die Schuppentiere machten immer einen großen Bogen um uns oder sie rissen die Köder einfach ab.
Dabei hatte James eigens schweres, hochseeangeltaugliches Geschirr an Bord der LUV geschleppt. Die nachgemachten Oktopusse, die Makrelen aus Blei, die Seebarsche mit Tauchfunktion – alles war von kräftigstem Kaliber, die Haken furchterregend.  Nur – es half nichts. Kein Erfolg.
Nur einmal, bei Halifax vor dem kanadischen Nova Skotia, fing James einen Eimer voller Dorsche – mit einem kleinen Blinker und einer Route, die auch in der Kieler Bucht ausgereicht hätte. Die LUV hatte für diesen Fang die Segel gestrichen und die Fahrt auf Null gebracht. Hochseeangelei ist eigentlich anders.

Ohne große Hoffnung, nur so aus Gewohnheit, hatten wir auch heute in der Früh die Angelleine erneut ausgeworfen. Gestern noch war uns der letzte Oktupus mit Drillingshaken abhanden gekommen und Vorgestern der superbunte Tauchbarsch. An der leeren Leine hing nur noch der dicke Wirbel.
Aber heute Mittag ist alles anders. Als Eggert die millimeterdicke Leine prüfend zupft, nur mal so nebenbei, fühlt er nicht das gewohnte Vibrieren des im Kielwasser drillenden Köders. Da ist ein schwereres Gewicht, ein  ruhiger Zug zu spüren. Hand über Hand holt Eggert die über hundert Meter lange Leine ein. Schon nach der Hälfte der Strecke sind wir sicher: „Ein Biss.“ Ein weißer Fischbauch leuchtet im blauen Wasser. Ein Mahi Mahi? Das wäre der Wunschfang. Es ist aber ein kapitaler Barrakuda, gewiss über einen Meter lang. Der Fisch zeigt zwei lange Reihen beeindruckend großer, dolchartiger scharfer Zähne. Im grünen Bleifischköder haben Sie tiefe Ratscher hinterlassen.
Wie sollen wir den Fang an Deck bekommen? Wie ihn gefahrlos erlegen? James hatte doch auch eine Gaff mit an Bord gebracht. Wo um alles in der Welt hat er dies Fanggerät bloß versteckt? Die Gaff findet sich schließlich. Der Barrakuda wird waidgerecht zur Strecke gebracht, ausgenommen, von Björn gekonnt filetiert und von mir zum festlichen Fischcurry mit, nein „an“ Reis verarbeitet. Dies alles zur Feier des Bergfestes. Wir haben die Hälfte der Reise hinter uns gebracht. Jetzt sind es nur noch 442
Meilen.

Wir schaffen das

Fütterung einer SchwalbeDer Fremde ist übers Meer zu uns gekommen. Völlig erschöpft, zu schwach um Nahrung aufzunehmen, zu müde, um zu trinken, zerzaust, die Haare unordentlich,  so hockt er scheinbar teilnahmslos, tonlos, hoffnungslos, abgemagert,  auf der Bank im Cockpit der Luv, dunkelbraun, fast schwarz. Die Augenlieder fallen ihm zu. Der Kopf fällt herunter.
Michael sagt: „Der stirbt uns weg.“ Ich sage: „Der ist zäh.“

Wie um alles in der Welt es der Blinde Passagier offensichtlich mit seiner allerletzten Kraft zu uns an Bord geschafft hat, bleibt ein Rätsel. Hier, mitten in der Sargossasee, gut 400 Meilen vom nächsten Land entfernt, erwartet man keine Migranten.

Was hat er für eine Geschichte? Was wurde aus seinen Gefährten? Wo will er hin? Wir können ihm auf unserem Boot nur vorübergehend Asyl gewähren. Die Einwanderungsbehörden in Antigua, unserem Reiseziel in der Karibik, verlangen von jedem gültige Papiere und sie sind überhaupt strikt gegen die illegale Einfuhr von nicht einheimischen Vögeln.  Wir werden uns da was einfallen lassen müssen.

Aber zuerst kommt es darauf an, der Schwalbe das nackte Leben zu retten.  Unsere begrüssungskulturelle Kompetenz ist gefordert.  Im Kühlschrank lagert ein Hühnerbein, ich schneide ein Fitzelchen ab und biete es unserem kleinen Gast an. Null Reaktion. Ich träufele ein Tropfen Wasser auf den Schnabel. Die Schwalbe öffnet die Augen, schließt sie
wieder. Interessant übrigens, dass sie ihr Lid nicht von oben über die winzige schwarze Linse schiebt, das Lid bedeckt sie von unten nach oben.
Der Vogel hat noch gar nicht wahrgenommen, dass er in Sicherheit ist. Apathisch ignoriert er alle Hilfsangebote. Nach einer Stunde aber kommen die Lebensgeister zurück. Er pickt nach dem Hühnchen, es ist ihm zu groß. Erst als ihm der Happen mundgerecht gereicht wird, vielleicht streichholzkopfgross, kriegt er ihn herunter. Noch ein Stückchen, und noch eins, und noch eins. Dann fallen ihm die Augen wieder zu. Dass heißt, sie fallen , wie gesagt, natürlich nicht zu. Es ist inzwischen dunkel geworden. Die Nachtwache zieht auf. Wir legen die Rettungswesten an, wie immer, wenn die Sonne untergegangen ist. Als wir uns wieder um die Schwalbe kümmern wollen, ist sie fort. “ Siehste.“ , sagt Michael. „Wart’s ab.“, sage ich.
Drei Tage später ist die Schwalbe immer noch an Bord. Sie flattert ums Schiff herum. Jetzt ganz offensichtlich flott und fröhlich,  entfernt sie sich außer Sichtweite,  kommt zielsicher zurück immer dicht über der Wasseroberfläche zickzackige Haken schlagend.
Ganz nebenbei widerlegt der Vogel die alte deutsche Bauernweisheit, wonach tiefliegende Schwalben auf  schlechtes Wetter, Regen zumal, hinweisen. Das Wetter bleibt schön, warm und trocken.

Nach ihren kleinen Seeausflügen ruht sich sich die Schwalbe mal auf dem Seezaun, mal auf dem Steuerrad, mal auf der Grossschot aus. Und immer schaut sie – ich möchte fast sagen: fordernd  – nach mir und meinem Finger, ob von dort nicht wieder ein Fleischstückchen abzupicken ist.
Huhn ist aus.  Wir hatten gestern Hühnersuppe. Fliegen und Mücken, die Leibspeise unseres Passagiers, sind absolute Mangelware soweit draußen auf See. Gulasch mag der Vogel gern gut vorgekaut, sonst kriegt er die rohen Brocken nicht herunter. Michael fürchtet schon maulig um die Größe seiner Ration, weil er mit dem Migranten teilen soll. Ich sage:
„Du  Seehofer, du.“

Was ist mit Getränken für das Tier? Eine an Deck platzierte Wasserschale bleibt unberührt. Ich wässere jetzt das Fleisch. Der Vogel ist nachgerade begeistert. Während ich dies schreibe, sitzt er keine 20 Zentimeter vor mir auf dem Tisch und bedeutet mir: “ Nu aber mal! Nachschlag.“ Jetzt hockt er auf dem linken Daumen, pickt hinein. Jetzt krallt er sich auf dem lederbespannten Steuerrad fest, lässt sich mal nach Steuerbord, mal nach Backbord rucken.

Und dann kackt er auf das Teakdeck. Eggert sagt zu mir: “ Das hast du nun davon. Bring ihm mal bei, sich an unsere Sitten und Gebräuche zu halten.“ Ich sage etwas von Toleranz, die von uns allen gefordert ist und: „Niemand hat gesagt, dass es einfach wird, Flüchtlingen zu helfen. Aber wir schaffen das.“
Die freundliche Aufnahme einer verirrten Schwalbe an Bord der Segelyacht Luv hat sich in Kreisen heimatloser Federtiere rasch herumgesprochen. Kaum haben wir den einen Migranten freundlich gefüttert und für die Nacht ein warmes Zeltlager unter dem Beiboot auf dem Vorschiff gewährt, haben wir einen zweiten an Bord. Um im Bild zu bleiben: Anders als die ortsfremde Schwalbe kommt dieser Seevogel vom Stamme der Tölpel aus einem sicheren Herkunftsland und hätte von rechts wegen nur eine sehr minimale Aussicht auf Anerkennung als Asylbewerber. Aber Rechtsfragen kümmern diesen eleganten Segler nicht. Er setzt sich frech auf den halbrunden Dom der Satellitenanlage am Heck der Luv und betrachtet sich von dort oben die Landschaft. Das heißt: er schaut von dort oben auf das Wasser und seine Nahrung, die darin schwimmt.

Was uns für diesen Schutzsuchenden einnimmt:  Er spekuliert nicht auf private Spenden und öffentliche Beihilfe. Er ist ein Selbstversorger.  Er wartet, bis mal wieder ein Fliegender Fisch in der passenden Größe vor dem Bug der Luv Reißaus nimmt und sich bei der Flucht aus seinem eigentlichen Element wagt. Dann steigt der Tölpel auf, legt die Flügel an und stößt mit Hochgeschwindigkeit steil auf seine Beute. Jeder dritte dieser Fischzüge ist erfolgreich.

Gegen Abend hockt sich der Vogel vorn beim Anker auf ein Brett und geht schlafen. Auch er scheißt aufs Teakdeck. Eine See kommt über das Vorschiff. Alles ist wieder sauber.

Mann über Bord!

„Mann über Bord! “ Eggert reagiert am Ruder vorbildlich und sofort auf meinen Alarmruf. Kaum ist der aus dem Mund, kommen seine klaren Kommandos:“Vorsegel bergen! Ein Mann an die Grossschot!“  Mit der einen Hand dreht er das Schiff in den Wind, mit der anderen hält er den MOB- Knopf gedrückt. Auf Gegenkurs zeigt uns jetzt der Bildschirm am
Steuerstand, wo genau der M(ann)O(ver)B(ord) gegangen ist und wo wir diesen Schiffbrüchigen jetzt in der aufgewühlten Sargossasee suchen und retten müssen.

Der Mann ist ein Rettungsring. Der war mir aufgefallen, als die LUV im Abstand von einer halben Kabellänge daran vorbeigesegelt war. So etwas kann man auf See nicht einfach links liegen lassen. Wer weiß, ob der orangerote Ring nicht von einem Schiffsuntergang stammt. Womöglich warten Angehörige von verschollenen Seeleuten auf Nachriten oder auf Hinweise, wo denn die Katastrophe stattgefunden haben könnte. Hier hatten wir das letzte Zeugnis  eines schrecklichen Unglücks. Das muss geborgen werden. Eggert mutmaßt, mir ginge es doch nur darum, ein dekoratives Stück für meine Hafenkneipe aus dem Wasser zu fischen,
wenn ich demnächst mal eine in Buxtehude aufmachen wollte.  Eine  betagte bunte Hummerboje hätte ich ja ach schon in meinem Schrank versteckt.
Sei’s drum. Das Mannöver klappt reibungslos. Mit dem Bootshaken hieven wir das maritime Rettungsmittel an Bord. Der vom Salzwasser abgewaschene Heimathafen ist nur als Schatten abgewaschener Klebebuchstaben auf dem harten Kunstoff zu erkennen: Nassau.
Der Schiffsname, den jeder Rettungsring tragen muss, ist nur unvollständig und schon sehr verblasst. Wir raten eher, als dass wir entziffern: Norwegian Sky.
Es existiert eine große Kreuzfahrtlinie, deren Schiffe alle mit „Norwegian“ beginnen. Von einem abgesoffenen Kreuzfahrer dieser Reederei hätten wir bestimmt gehört. Also kein Unglück. Doch nur Dekoration. Auch nicht schlecht. Und außerdem sollte auf jedem Schiff ab und an ein Mann-über-Bord-Mannöver geübt werden.

Besser geht nicht.

Schöner gehts nicht. Claus

Seit Stunden mussten die Segel um keinen einzigen Millimeter justiert werden. Der warme Passat bläst beständig aus Nordost und mit gleichmäßigen vier Windstärken, eine perfekte Backstagbrise. Die See ist nur mäßig bewegt. Die Luv legt sich geschmeidig in die Wellen, hebt sich ein wenig, giert ein wenig und hält präzise ihren Kurs. 170 Grad und noch 779 Seemeilen bis nach Antigua. Mit jeder Stunde, die wir nach Süden vorankommen, werden es gute acht Meilen weniger. Ausgezeichneter Speed.

Nur auf See, nur in einer solchen Nacht mit dieser samtenen Luft, leicht feucht, zart salzig, ist solch ein Sternenhimmel möglich. Der Mond wird erst weit nach Mitternacht aufgehen und erst dann mit seinem Licht diesem tiefschwarzen und zugleich millionenfach glitzernden und leuchtenden Firmament seine einzigartige Brillanz nehmen.
Silbrige Satelliten – von der längst versunkenen Sonne in ihrer Höhe gleichwohl noch beleuchtet –  ziehen ihre Bahnen. Sternschnuppen zeichnen mal feine, mal kräftige helle Blitzstriche quer durch Orion, den Großen Wagen oder bis hinunter in den Horizont. Ein Fliegender Fisch zappelt im Cockpit, handtellergroß. Claus hat Mitleid und er fliegt wieder von Bord. Ein paar silbrige Schuppen glitzern auf dem Teakdeck.
Wann, wenn nicht jetzt, muss über Gott und die Welt philosophiert werden? Mit Eggert an Bord ist das nicht denkbar. Er ist Physiker und kann die Weltgesetze von Gravitation und Urknall bis Dunkler Materie und Raum-Zeit-Krümmung so nachvollziehbar erklären, wie Newton und Einstein. Wie entstand all diese Pracht über uns? Gibt es Leben da draußen?
Gott kommt in Eggerts spannenden Scenarien nicht vor. Schließlich überstrahlt der abnehmende Mond den dünnen Lichtschleier der Milchstraße. Nur noch die helleren Sterne und Planeten behaupten sichtbar ihre Plätze. Der Wind bläst immer noch aus Nordost mit vier Beaufort, noch immer hat niemand an irgendeiner Schot gezogen, noch immer machen wird sehr gute Fahrt. Wir warten auf den Sonnenaufgang. Der wird spektakulär. Die Welt bekommt wieder Farbe.

Björn überrascht uns mit der Mitteilung: „Ich hab heute Geburtstag.“ Herzlichen Glückwunsch! Ich backe für jeden in der Crew ein Brötchen knusprig. Michael brüht einen Kaffee auf.
Welch eine Nacht. Welch ein Tag.

Besser geht nicht.

Konjunkturmotor Segelsport

Paradies geht anders. An der Kasse des kleinen Supermarktes in Georgetown informiert ein großer Zettel die „geschätzten Kunden“ darüber, es sei dem Management bewusst, dass die Bermudas durch schwere wirtschaftliche Zeiten gingen. Man sei deshalb stolz darauf, ein Brot zum „very special“-Preis von nur 2.99 US-Dollar anzubieten. Das Sonderangebot gilt nur eingeschränkt: “ Ein Laib pro Familie.“
Die Luv-Crew gilt nicht als Familie beim Großeinkauf. Wir müssen fürs Brot mehr als das Doppelte bezahlen, unser Proviant für die anstehende siebentägige Tour in die Karibik kostet mehr als 400 Dollar. Alles auf dem kleinen Archipel mitten im großen Atlantik ist sündhaft teuer. Für ein Steak etwa werden an die 17 US-Dollar, verlangt, nicht etwa im Restaurant, im Supermarkt. Auf den Bermudas muss so gut wie alles, was man essen und verbrauchen kann, eingeführt werden. Für eine Rolle Küchenpapier blättern wir 3,50 Dollar hin. Eigentlich ein Unding, aber segeln ohne Küchenpapier, an Bord „HP“ genannt, ist unmöglich.

Die Insulaner, zum großen Teil die Nachkommen ehemaliger Sklaven, leben vom Tourismus. Und von dem leben sie mehr schlecht als recht. Vor zehn Jahren, sagt uns ein Restaurantchef, habe es auf den Bermudas  noch 8000 gut ausgelastete Hotelbetten gegeben. Jetzt stehen nur noch die Hälfte zur Verfügung und die bleiben zumeist leer. Seit der Bankenkrise fließen auch die Einnahmen aus den ehemals blühenden Finanzgeschäften nicht mehr wie gewohnt. Die reichen Hinterzieher machen inzwischen einen Bogen um das Steuerparadies, die einmal mit besonders niedrigen Abgaben um reiche Millionäre warb.

Die Touristen kommen zwar noch in Massen, aber sie wohnen und essen auf den riesigen Kreuzfahrern, die im Hauptstadthafen Hamilton vor malerischer Kulisse für ein paar Stunden vor Anker gehen. Mit Bussen und Schnellfähren wird ein Blitzbesuch organisiert. Zwischen Frühstück an Bord und Dinner im Salon überschwemmen die Passagierschiffe die Bermudas mal mit 2000, mal mit drei- mal mit viertausend Gästen. Vor allem geht es nach Georgetown, dem
Weltkulturerbe, das einen Teil seines mittelalterlichen Charakters zu bewahren sucht. Zum Gaudi der Touristen demonstrieren historisch gekleidete Georgianer 400 Jahre alten drastischen englische
Strafvollzug. Eine angeblich zänkische und geschwätzige Frau muss sich mehrfach auf einem Stuhl sitzend ins Hafenwasser tunken lassen, bis sie triefend und spuckend laut und deutlich bereut.
Früher hatten die Gäste Zeit, mit dem Boot rauszufahren und zu schnorcheln, in den zauberhaften kleinen Buchten zu baden oder vielleicht auf einem der sieben wunderbaren Golfplätze, derer sich Bermudas Tourismus-Broschüren berühmen, eine Runde zu spielen. Jetzt setzen beschäftigungslosen Boote in den Häfen Seepocken und Algen an, in den Badebuchten vergammeln die Liegen und auf dem ehemals exklusiven Golfplatz in Georgetown  wird schon seit vielen Jahren kein Gras mehr gemäht. Den zahlreichen Arbeitslosen wird überall auf Schildern bedeutet, sie dürften hier nicht herumlungern: “ No loitering“, heißt es am Marktplatz, am Touristeninfo, an beinahe jedem Restaurant.

Hoffnung erwächst den Menschen aus dem Wassersport. Wir kommen doch gewiss wieder, sagt der Kneipenwirt, der vor Jahrzehnten aus Ulm hier hängen blieb: „Zum Amerikca Cup.“ Die Frau, die uns im Supermarkt als freiberufliche Kraft die Lebensmittel in Tüten packt, sagt: „Bestimmt kommt Ihr zurück zum Americas Cup.“ Der Busfahrer, der Kellner, die freundlichen Zöllnerinnen, der Lotse, auch „Mama“, die Hafenmeisterin in Georgetown, alle sind sicher, dass alle Segler der Welt 2017 nichts anderes im Sinn haben werden, als das Supersondergrossereignis des Weltsegelsports mit eigenen Augen in den azurblauen Gewässern der Bermudas anzusehen. In Hamilton hängt an jedem Laternenpfahl ein Banner, das auf das Event verweist.  Eine Uhrenfirma hat zum Anlass einen Luxuszeitmesser kreiert, auf Bechern, T-Shirts, Salzstreuern und Radiergummis wirbt Bermuda für das Spektakel. Die Firma „Oracle“, sie ist namensgebenden Titelverteidigerin, hat im Hafen ein streng abgeschirmtes Areal in Beschlag gelegt. Drei Hightech-Katamarane  liegen dort mit ihren flügelartigen, steifen und schwarzen Segeln, die man weder einrollen noch falten kann. Ein Kran setzt die schwarzen Antriebskörper mit Mast auf die Rümpfe. Dann huschen die Fahrzeuge über die Bucht. Mit nem Fernglas könnte man das Training jetzt gut beobachten. Wohl auch vom Oberdeck der Kreuzfahrer. Und wenn dann in den entscheidenden Regatten zweier AC-Boote in zwei Jahren  der Sieger gefunden (mutmaßlich Oracle, kein anderer Herausforderer kann die notwendigen Milliarden aufbringen) und die Sponsoren ihre Milliarden teuren Rechnungen bezahlt haben – wieviel Dollar bleiben davon auf der Insel?

Wir wissen es nicht. Mit gemischten Eindrücken und der Hoffnung auf guten Wind lassen wir die Bermudas hinter uns.

P.S. Von den berühmten kurzen Hosen, den Bermuda-Shorts, haben wir leider nicht viel gesehen. Hier ist Winter, die Menschen packen sich ein und bedecken die Beine. Mittags ist es schon mal 24 Grad kalt.

Kleine Rundreise durch ein Paradies

Über die korrupte Elite des Inselparadieses hatte sich schon Kapitän Horatio Nelson aufgeregt. Als amtierender Chef der Marinebasis in English Harbour und Statthalter seiner Englischen Majestät legte er sich zwischen 1884 und 1887 heftig mit den Zuckerbaronen und Sklavenhaltern von Antigua an. Erverlangte von den Rumhändlern und Reedern, nicht immer nur den eigenen Vorteil im Auge zu haben. Die Gesetze des Mutterlandes, auch die Steuergesetze, seien oberstes Gebot. Schmuggel mit den US-Amerikanern zu Lasten der Krone zum Beispiel ginge gar nicht.

Fieberkrank und enttäuscht vom nur sehr kleinen Erfolg seiner Moralpredigten segelte Nelson nach drei Jahren in Westindien zurück nach England. Er hatte ein großes Fass Rum mit an Bord seiner Fregatte „Borea“ genommen. Für den Fall, dass er die Reise nicht überleben sollte, wollte er seinen Leichnam im Schnaps konservieren lassen. Nelson hielt
nichts von Seebestattungen.
Die LUV liegt heute präzise dort, wo die Fregatte des späteren Seehelden lag und wo er das Rumfass an Bord nahm. Nelsons Dockyard heißt zu seinen Ehren der überaus sichere und palmengesäumte Liegeplatz, eines der sichersten Hurrikaneholes in der Karibik. Hier erinnern alte Gemäuer, zahlreiche Kanonen, unglaublich große verrostete Stockanker, an die Historie der großen Segelschiffe.

Die LUV-Crew will  wissen, was sich seit Nelsons Zeiten geändert hat in diesem Inselreich, mit seinen kaum 70 000 Einwohnern eines der kleinsten selbständigen Länden der Erde. Mit einem Mietwagen touren wir einen langen Tag über die kurze Insel.

Wer so reist, muss aufpassen, nicht sofort den eigenen Vorurteilen aufzusitzen. Weil unsere einzigen Informationsquellen unsere Augen sind und wir die gesammelten Bilder gleich interpretieren und bewerten, kann leicht ein falscher, ein ungerechter Eindruck entstehen. Und die Bilder sind widersprüchlich. Wir sehen: Superyachten von Milliardären, exklusive Hotelanlagen an traumhaften Sandstränden hinter prächtigen Korallenriffen, teure Luxusanwesen auf privatisierten Klippen, bunte tropische Vegetation, ein blaues bis türkisfarbenes Meer, bewegt vom
immerwährenden, warmen und maßvollen Passatwind.

Wir sehen auch: verfallene Häuser im Dutzend, viele Kinder, viele Männer, die erkennbar nicht zu tun haben, ab und zu Krüppel an Krücken. Wir fahren über Straßen mit knietiefen Schlaglöchern, vorbei an eben neu gebaute und eben bereits wieder stillgelegte Fabriken, bei denen durch den Asphalt der Mitarbeiterparkplätze schon wieder der Urwald zu sprießen beginnt. Wir sind beeindruckt von einer riesigen Rohrzuckerfabrik, deren metallener Schornstein kalt und umgeknickt ist, deren beeindruckende Quetsch-, und Koch- und Extrahiermaschinen von wohlmeinenden Investoren zu einem Zuckerrohrgedächtnispark umgruppiert wurden sind. Sogar ein Swimmingpool  ist angelegt inmitten dieses Industriemuseums. Aber da sind keine Besucher, keine Museumswächter, keine informationsschilder. Nur Verfall und auf Wandmalereien naive Erinnerungen an ehemalige Größe.

Wir Touren im Linksverkehr im Nordosten von Antigua durch eine ehemals fruchtbare und hochproduktive Kulturlandschaft, in der heute im größeren Maßstab niemand irgendetwas anzubauen scheint. Auf ehemaligen Zuckerohrfeldern wuchert undurchdringliches Stachelgebüsch. Brache Felder bis zum Horizont. Ein paar Bananenstauden, vereinzelte Rinder, einige wenige Gärten gibt es; am Straßenrand auf Brettern von ärmlich gekleideten Frauen ärmlich präsentiert ein paar überreife Bananen, fleckige Avocados, halbvertrocknete kleinwüchsige Ananas, Kokosnüsse natürlich.

Wir wollen den Proviant der Luv auffüllen und verhandeln. Bananen?  Zehn Dollar das Pfund. Ananas? Acht Dollar das Stück. Das sind Preise für blöde Touristen. Im Supermarkt gibt es das Obst ins weit besserer Qualität und für ein Viertel der hier aufgerufenen Summe.

Für dumm verkaufen wollen uns auch die Händler im großen  Dutyfree-Markt in der Hauptstadt St. Johns. Hier gibt’s alles für die Hälfte und nichts, was man braucht. Amerikanische Investoren haben das Areal von der halben Reeperbahngröße direkt  hinter den Anleger für die riesigen Kreuzfahrer gebaut, die für ein paar Stunden hier festmachen. Wenn die Passagiere an Land gehen, können sie gar nicht anders, als die Supersonderangebote der Diamanten-und Uhrenhändler, der Handtaschenanbieter und teuren Klamottenläden für landestypische Folklore zu halten. Nicht wenige bleiben in dieser kitschigen, klebrigen Steueroase hängen und halten das schon für einen Karibikurlaub.

Apropos Steueroase. Deutsche Reeder, auch viele aus dem Alten Land, profitieren gewaltig von den eigenartigen Gesetzen Antiguas. St. Johns ist Heimathafen für eine beeindruckende Flotte von Schiffen.  951 davon gehören deutschen Eigentümern. Diese Zahlen liefert das Internet. Keine andere Billigflagge ist deutschen Schiffseignern lieber. Nie werden deren Frachter je diese Heimathafen anlaufen.  Die bunte Sparflagge mit der aufgehenden Sonne wird gegen eine nur geringe Gebühr gehisst und schon gelten an Bord die Ausrüstungs- und Besatzungsvorschriften der Bananenrepublik und natürlich deren Steuergesetze.

Mitten in St. Johns wähnen wir uns plötzlich im Kölner Karneval. Eine weit überlebensgroße, knallbunt bemalte Betonfigur beherrscht einen zentralen Platz im Zentrum der Hauptstadt. Die Hand ruht auf dem Herzen, das klare Auge ist zuversichtlich in eine ferne aber gewiss herrliche Zukunft gerichtet.  Vere Conrad Bird, dem langjährigen
Premiereminister und „Vater der Nation“,  ist hier ein kitschiges Denkmal gesetzt worden. Berge von frischen Blumensträußen zeigen an: Der Mann war mal höchst populär. Zu Lebzeiten galt er den US-Sicherheitsbehörden als einer, der seine schützende Hand gern über Waffenhändler, Drogenschmuggeler und Geldwäscher hielt.

Birds Nach-Nachfolger, der jetzige Staatschef Gaston Brown, macht sein Geld vor allem mit Immobiliengeschäften. Seit im Zuge der weltweiten Finanzkrise die USA in den Kleinstaaten Westindiens ein angeblich striktes Geldwäschegesetz durchdrückten, wurden auch in Antigua die Milliardäre knapp. Der Niedergang des Finanzsektors stürzte die
Bevölkerung jedoch nicht in zusätzliche Armut. Das Geld der Banker und Spekulanten – oder die Flaggengebühren der deutschen Reeder – ist ohnehin nie bei den einfachen Leuten angekommen.

Unlängst erklärte der Labour-Politiker Brown im Parlament seinen seit seinem Amtsantritt deutlich gestiegenen persönlichen Reichtum mit unbändigem Fleiß. Neben dem Regierungsjob kümmere er sich auch als Teilhaber zahlreicher Unternehmen ausschließlich um das Wohl des Landes. Was jedermann sofort und vorbehaltlos für bahre Münze nimmt.

Wir beenden unseren Ausflug und ziehen eine gemischte – zugegeben: subjektive – Bilanz: Horatio Nelson hätte wenig Mühe, sich im Antigua von heute zurecht zu finden. Die Sklavenhalter und Zuckerpflanzer sind zwar verschwunden, die Strukturen von Macht und Reichtum funktionieren in diesem Paradies aber wie eh und je. Nur die Sache mit dem Rumfass würde 2015 nicht mehr so problemlos funktionieren wie vor 230 Jahren. Antigua muss den Rohrzucker für seinen sündhaft teuren Rum heute importieren. Ein ganzes Fass wäre unerschwinglich.

Station vier: Immigration.

Die Frau in der Einwanderungsbehörde hört Beethoven, „Pour Elise“, auf ihrem Computer, während sie dem „Captn“ der
Luv ein Formular in die Hand drückt und wartet. Ich will den Leser hier nicht weiter langweilen, es ist wie immer und
überall auf den Freien und selbständigen Karibikinseln. Jedes Amt hat eigene Papiere, eigene Fragen, eigene Beamte
und diese nur deshalb eine Daseinsberechtigung, weil sie eben diese sinnlosen Papiere produzieren.   Eine Gebühr wird
jetzt aber nicht fällig. Dafür fragt mich die blauweiß uniformierte Dame, ob ich denn bereit seit, für ihre Kirche
zu spenden. Ein Spendenbuch liegt auf ihrem Schreibtisch neben weiteren Stapeln von Formularen und bevor sie auf die
Idee kommt, mir noch ein weiteres vorzulegen, drücke ich ihr 15 EC-Dollar in ihre dankbaren Hände.

Und in St. Barth? Zoll, Hafenmeister, Hafenbehörde und Immigration alles in einer Hand. Die Daten werden – gut
leserlich – flott in einen PC getippt. Fertig. 17 Euro gegen Quittung. Das wars.

Eggert, der alte Religionsverächter, weiß nach einem Spaziergang durch die aufgeräumte kleine Stadt, warum es den
Menschen hier so vergleichsweise gut geht: “ Die haben nur zwei Kirchen.“ Eggerts Theorie: Je mehr Sekten und
Religionen den Menschen das Heil im Himmel gegen Spendengelder versprechen, um so weniger hätten sie davon hier auf
Erden.
Da mag was dran sein. Zwei Dutzend und mehr Heilsbotschafter  – sämtlich mit eigenen Gebäuden und Türmen, finden
sich auf jeder Insel in jedem Dorf an jeder Straßenecke. Wer mit der Bibel –  in wessen Auslegung auch immer – nichts
am Hut hat, glaubt an Haile Selassie und versteckt deshalb seine niemals geschnittenen Rastazöpfe unter gehäkelten
Turbanen.
Ich halte dagegen: St. Barth ist so wohlhabend, weil die EU ordentlich subventioniert und Leute wie Brett Pitt  und
Daniel Craig ziemlich viel Geld hier lassen.
Ich frage Michael, ob er sich vorstellen könne, auf dieser Insel der Seligen zu leben: “ Stell Dir vor, eine
Luxusvilla auf dem Berg mit Blick auf den Atlantik und in den Golf von Mexico, unten wartet deine Yacht,  die Sonne
scheint verlässlich auch im Januar, und unten am Pool wartet Angela Joulie. Wär das was für dich? “
Michael zögert ein ganz klein wenig, wohl wegen des Gedanken an Angela. Und dann sagt er: “ Nee. Zu viele Mücken.“

Der Name des Kapitäns

Daniel Craig hat gespeist, wo wir heute Abend essen. Das Foto des aktuellen Bond-Darstellers,  Arm in Arm mit dem
glücklichen Koch, wechselt sich auf dem Fernseher im Vietnam- Restaurant von St. Barth mit einem bunten
Korallenfischvideo in Endlosschleife ab.  Brett Pitt und seine Angelina Joulie wohnen, nein, sie residieren, wenn sie
hier sind, in ihrem Anwesen eben den Berg hinauf. Diese Insel haben die Reichen und Schönen dieser Welt schon seit
längerem für sich entdeckt – und nun auch die LUV-Crew. Und wir finden es zwar auch schön hier aber doch reichlich
teuer.
Eigentlich wollten wir mal richtig toll französisch dinieren. St. Barth gehört schließlich zu Frankreich und damit
zur EU, wir zahlen mit Euros und die von Brüssel regulierten Handygebühren gelten sogar auf diesem winzigen
karibischen Eiland. Aber damit hört es dann auf mit schönen heimischen Gewohnheiten. Die Preise auf der
Gourmet-Karten der Restaurants sprengen unser Bordbuget. So landen wir – wie zuvor Daniel Craig, als es ihm wohl noch
nicht so gut ging – beim Asiaten.
St. Barth ist nicht nur wegen seiner EU-Zugehörigkeit deutlich anders als all die anderen westindischen Inseln. Was
hier besonders auffällt: Saubere Strassen, gut gekleidete Menschen, keine verfallenen Häuser, viele Restaurants,
dichter Verkehr mit intakten Autos, keine Bettler, kaum Afroamerikaner. Die Schweden, deren König früher St. Barth
gehörte, waren Händler und gaben sich mit Sklaverei nicht ab. Die Engländer waren nicht lange genug die Herren von
St. Bartholomäus und als die Franzosen hier übernahmen, stellten sie fest, dass die Insel einfach zu klein und zu
hügelig für die Plantagenwirtschaft ist und so blieben die Europäer unter sich.

Ich rechne es dem Einfluss der Schweden zugute, dass die Zollformalitäten flott, effizient und unbürokratisch über
die Bühne gehen.
Zuletzt, in St. Kitts war es noch so gewesen:
Station 1: Customsoffice.
Ausfüllen eines Formulares mit Schiffsname (Luv) Heimathafen (Hamburg), Länge ( 14.50m), Breite (4,50 m), Tiefgang
(2,20 m), Masthöhe (22 m), Baumaterial des Rumpfes (Fiberglas), Farbe des Rumpfes (Blau), Anzahl der Motoren, Marke,
PS-Stärke, Zahl der Waffen und Tiere an Bord ( keine), Zahl der GPS -Geräte ( eigentlich ist jedes Handy eines und
auch in jeder unserer modernen Schwimmwesten ist eines integriert, aber ich will nicht als Händler verdächtigt werden
und schreibe : 2).
Dann gilt es auszufüllen: Nummer des Schiffsregisters, Unterscheidungssignal, Telefonnummer, Wohnort des Kapitäns.
Der Kapitän bin ich und ich werde hier auch immer mit „Captn“ angesprochen. Das schmeichelt meinem Selbstbewusstsein,
verpflichtet mich aber zu unangenehmer Papierarbeit, denn nur der „Captn“ ist berechtigt, von sämtlichen
Crewmitgliedern ( Claus, Eggert, Björn und Michael) alle Daten aus den Reisepässen in die viel zu winzigen
Formularkästchen einzutragen.
Das dauert, aber die uniformierte Zöllnerin vertreibt sich die Zeit mit einem Computerspiel. Und dann noch: woher
gekommen ( Antigua), wann :(eben gerade), Uhrzeit ( ich lasse  das aus) , der nächste Hafen ( St. Martin oder St.
Barth), wann?, welche Uhrzeit? Wieviel Crew an Bord? Ich lasse auch das aus, sollen die doch die Namen selbst zählen.
Das ist eine schlechte Idee. Ich gebe das Formular ab und muss Nachfragen beantworten. „How many Crew on Bord?“ Ich
sage: “ Da sind fünf Namen aufgeführt.“ Aber nicht hier! Sagt die Zolloffizierin streng und weist mit dem Finger auf
ein kleines Kästchen: „Hier eintragen!“ Außerdem ist sie, ich hatte es befürchtet, mit der Entzifferung meiner
Handschrift überfordert. Und deshalb fragt sie das halbe Dokument noch mal mündlich nach: „Wie heißt der Kapitän,
Captn?“ Können Sie das mal buchstabieren?
Irgendwann sind wir dann doch fertig,  alle Pässe sind gestempelt, die Gebühr bezahlt ( 72 EC-Dollar) und die
Zöllnerin sagt: „Welcome to St. Kitts.“ Und ich solle nun mit dem Formular  – auch das ist gestempelt – nach nebenan
zum Hafenmeister gehen.
Station 2. der Harbourmaster.
Den Hafenmeister kenne ich schon. Hilfsbereit und freundlich hatte er uns beim Anlegen geholfen und sich halbwegs
dafür entschuldigt, dass wir heute Nacht kein Auge zu tun würden. Es finde ein Openair-Konzert unmittelbar im
Hafengelände statt, und das würde laut. Gleichwohl: Auch dieser nette Mensch legt mir ein Formular vor. Und ein
zweites: Schiffsname (Luv) Heimathafen (Hamburg), Länge ( 14.50m), Breite (4,50 m), Tiefgang (2,20 m), Masthöhe (22
m), Baumaterial des Rumpfes (Fiberglas), Farbe des Rumpfes (Blau), Anzahl der Motoren, Marke, PS-Stärke, Zahl der
Waffen…
Um es kurz zu machen: der ganze Scheiss noch mal und noch mal. Alles mit der Hand und der Stress nur schwach
abgemildert durch das stillschweigende Einverständnis zwischen mir und dem Hafenkapitän, dass wir Unfug anrichten und
niemand jemals diese Formulare liest, prüft oder verwendet. Diesmal werden die Passdaten der Crew nicht abgefragt aber
Gebühren werden auch wieder fällig.
Genau wie bei der Station 3: Port Authority.
Die ist in einem anderen Gebäude. Ich frage die Autorität mit den gewaltigen Schulterstücken hinter dem Tresen
hoffnungsvoll, ob man denn hier das gestempelte Formular vom Zoll oder vom Hafenmeister nicht kopieren könne? Blöde
Frage. Alles noch mal und erneut. Im Hintergrund überträgt ein Fernseher ein Motorradrennen auf einer Matschpitste.
Sieben Beamte sind höchst interessiert. Meine Handschrift, schon im Normalfall ein Problem,  wird nachlässig. Diesmal
will das Hafenamt auch wieder alle Namen. Und eine neue Gebühr.

Herr im Haus

Genau hier hat er gestanden, der Heilige Gral des Segelsports. Die „Kanne“, der legendäre Americas Cup. 138 Jahre lang konnten die Skipper der New York Yacht Club die Zinntrophäe verteidigen. Dann ging sie an die Australier. Zu bewundern ist hier aber auch so noch genug: Dutzende  Schiffsmodelle, hunderte von Pokalen und Tellern  und Schalen aus Silber und Glas und mit Füßen aus Ebenholz und mit den leicht patinierten Namensplaketten der siegreichen Seehelden der vergangenen einhundert 171 Jahre. Dennis Connor, vielfacher Verteidiger und tragischer Verlierer des Americas Cup – sein Name ist gleich mehrfach eingraviert. Mehr maritime Tradition geht eigentlich nicht.

Ich stehe im dunkel getäfelten Throphäen- Saal des New York Yacht Club von 1844 in Newport, Rhode Island. Nick Brown gibt mir eine Privatführung durch das Clubhaus, das wie ein Schloss hoch über dem Newport Harbour thront. In der Bucht haben sich hunderte Segelboote an ihren Moorings und Ankerketten mit der Nase in den frischen Wind gelegt. Dort liegt auch die Segeljacht von Nick, die „Foxtrott“. Das ist eine X 482, Baunummer 52. Unsere „Luv“ liegt dicht daneben. Sie  ist auch eine X-482, Baunummer 53, und dieser Zufall hat mir Nicks Einladung und Privatbesichtigung eingebracht. Er wollte den Skipper seines Schwesterschiffes kennenlernen und mit ihm fachsimpeln.

Nick macht eine Tür auf: „Hier habe ich meine Schularbeiten gemacht. Da drüben hat meine Tante ihren Tee eingenommen und gestickt.“ Eine weitere himmelhohe Flügeltür schwingt auf und gibt den Blick frei auf schwere Stilmöbel, glitzernde Kronleuchter, überall erlesene Antiquitäten, die Wände sind voll mit wertvollen historischen Gemälden, Seestücke zumeist. „Hier haben wir gegessen.“, sagt Nick Brown. Der ehemalige Captain der US-Navy ist 82 Jahre alt und in diesem Schloss aufgewachsen, dass sein schwer reicher Großvater 1906 im Renaissance-Stil einem französischen Landadel -Sitzes nachgebaut hat.  Gleich um die Ecke prunkten die Rockefellers und die Vanderbilts mit gewaltigen Prachtvillen. Mit der späteren Präsidentengattin Jacky Kennedy, sie wohnte gleich nebenan, ist Nick mal ausgegangen. Newport war – und ist – eine erste Adresse des amerikanischen Geldadels.

1985 hat Nicks Familie den “ Harbourcourt“, das Hafenschloss, an den New York Yacht Club verkauft: Die Unterhaltskosten seien zu hoch geworden, sagt er: „Im Winter mussten wir viertausend Dollar nur für die Heizung ausgeben. Im Monat!“ Seither ist er hier nur noch Mitglied. Aber einer mit Gewicht und Einfluss. Im zuständigen Ausschuss sorgt er für den pfleglichen Umgang mit dem selbstverständlich unter Denkmalschutz stehende Anwesen.

Vor Jahren, 2007, war ich mit meiner Luv-Crew schon einmal in diesen heiligen Hallen, in denen Handys stärkt verboten und Krawatten und Jackett für die Herren verpflichtend sind. Der NYYC hatte am Vorabend des Starts der transatlantischen Blue-Race Regatta von Newport nach Hamburg alle Teilnehmer zur Farewellparty eingeladen. Wir waren davon ausgegangen, dass es etwas auf die Gabel geben würde und hatten in dieser Erwartung den ganzen Tag über kaum etwas gegessen. Leider servierten nur sechs  Bedienstete auf sechs silbernen Platten lediglich  kleine Häppchen für an die hungrige 500 Gäste. Die Luvianer machten aus der Not eine Tugend. Wir positionierten uns, fünf Mann rechts, fünf Mann links, neben der Schwingtür von der Küche zum Großen Saal. Kam eine neue Platte auf einer Kellnerschulter durch die Tür, griffen 20 Hände gleichzeitig die Fingerfood-Stücke ab. Die Platten kamen nicht dann mehr weit. Der Trick funktionierte eine ganze Weile. Dann wurden wir von unserer Poleposition  mit einer extravollen Platte mit Chicken-Wings und reichlich Lachshäppchen mit Ei und Kaviar weggelockt.

Heute werde ich bedient. Nick hat auf der sonnigen Terrasse zum Lunch gebeten. Mit dabei ist Heather, eine sehr junge, sehr attraktive Frau, die auf der „Foxtrott“ für Nick als Bootsfrau arbeitet. Wir unterhalten uns über unsere Schiffe, die unterschiedlichen Segel, die wir jeweils an Bord haben, den unterschiedlichen Tiefgang von Luv und Foxtrott.   Als Nick beim Kaffee feststellt, dass nur Süßstoff im Zuckerbecher ist, zitiert er die Kellnerin zu sich und macht ihr in Wortwahl und Tonfall klar, wer noch immer Herr im alten Haus ist: „Ich will echten Zucker, verdammt noch mal. Und ich will das nicht noch einmal sagen.“

Selbstverständlich, sagt das Mädchen. Das müsste doch so nicht sein, sagt Heather. Doch, sagt Nick Brown. Er hat hier sehr alte Rechte und er hat nicht vor, sie abzugeben.

Eine kleine Nachtmusik

Es ist Mitternacht. Eben haben Michael und Eggert uns abgelöst. Hundemüde haue ich mich in die Koje. Die Augen fallen zu. Die Ohren bleiben wach.

Unter Deck ist die LUV eine Klanghöhle mit erstaunlicher Akustik. Obwohl der allgemeine Lärmpegel gefühlt 98 Dezibel erreicht, sind die einzelnen Geräuschquellen wie die Instrumente in einem exzellenten Konzertsaal präzise zu orten und zu identifizieren. Im Schapp rechts über dem Gasherd klicken zum Beispiel  die Becher unserer Muckensammlung im Takt der Schiffsbewegung aneinander. Die Trinkgefässe erinnern an wichtige Stationen unserer bisherigen Reise: Brügge, ( Klick) La Corunha,( Klack) Cap Verde, (Kling) St. Lucia, ( Klick), Washington, (Klack), Neu Fundland ( Kling). Gleich nebenan die hellere Antwort der Gläser. Ihr zartes „Ping“ wird plötzlich übertönt von einem grausigen Knistern. Irgendwer zerknüllt mal wieder eine Kunststoffwasserflasche, damit sie Platz findet im Müllbehälter. Noch eine Flasche verliert krächzend ihre Form. Dies Zwischenspiel endet  mit einen knallendem Ausrufezeichen : Die Tür vor dem Mülleimer fällt ins Schloss, nein sie haut. Es ist nach ein Uhr!

Aus der geschlossenen Tür zum Bad dringen die Geräusche, die dort zu erwarten sind. Die glatten Wände und Spiegel bilden mit Decke und Klo einen tadellosen Resonanzkörper. Auch das abschliessende Händewaschen geschieht nicht unbemerkt. Die Frischwasserpumpe unter meinem Kopfkissen springt an und rattert und surrt eine kurze Minute.

Der Takt des übrigen Konzertes wird vorgegeben von den Wellen. Heute Nacht dauert es genau zweikommasieben Sekunden, bis die See die LUV von Backbord nach Steuerbord und zurück geworfen hat. In seinem Decksdurchlass knarzt der Mast an den Kunststoffführungen: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundz….

Die Möbel in der Messe dröhnen eine Oktave tiefer ein wenig mit.

einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundz….

Das Großsegel ruckt in die Schot, der Baum scheppert in seinem Lager. Der Schotblock knallt an Deck. einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundz….Der Wind missbraucht die Wanten als ungestimmte Harfe. Das ganze Rigg organisiert sich als Chor und brummt und summt seine maritime Melodie ohne jedes Gefühl für Harmonie.

Mein Gewicht drückt und entlastet im Rhythmus des steigenden und fallenden Schiffes meine Matratze und jedesmal …. einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundz….

seufzt der Schaumstoff leise in mein Ohr.

Bar jeden Taktgefühls schnarcht ein Mitsegler, den all das nicht kümmert. Er hat sein Gehör mit Ohropax ausgeschaltet.

Überlagert wird diese schräge  Kakophonie vom allgegenwärtigen Windbrausen, das mal auf- mal abschwillt, eine unendliche Arie, mal Bass, mal Bariton, mal irgendwas dazwischen. Dazu das  Klatschen und Rauschen der See an der Bordwand als immerwährendes Kontinuo.

Aus dem dunklen Cockpit dringt die helle Stimme von Michael nach unten, er kann nicht flüstern. Der Mond, sagt er, werde bald voll sein. Ja, sagt Eggert, das dauert nicht mehr lange. Vor ein paar Tagen, sagt Michael , hätten wir noch Halbmond gehabt.

Ja, sagt Eggert, gar nicht so lange her. Jetzt sei der Mond aber noch gar nicht so rund, sagt Michael. Nein, sagt Eggert, stimmt.

Welch ein Rezitativ. Und da soll einer in den Schlaf finden.