Bericht 32
Logbuch der Luv
Vor Anker im Atoll von Union Island
Wetter : Südost vier , 28 Grad, trocken
57 Menschen aus Afrika starben innerhalb von nur zehn Monaten auf Union Islands Zuckerrohrplantagen an den Folgen schlimmer Behandlung durch ihre Sklaventreiber. Das war im Jahre 1777. Mitten im zentralen Dorf der kleinen Grenadineninsel in der Karibik erinnert eine Steele an ihr
schreckliches Schicksal. Die Sklaverei ist längst Geschichte, Erinnerung nur die harte Arbeit; Zuckerrohr wird längst nicht mehr angebaut, gar nichts mehr wird auf Union Island in nennenswerten Mengen angebaut. Gefühlte Arbeitslosigkeit: Über 50 Prozent. Tourismus ist der Monopolwirtschaftszweig, Haupteinnahmequelle sind Leute wie wir, Yachties aus Europa und Amerika, angelockt von immerwährenden Warmbadetagen über buntbelebten Korallenriffs bei stetig freundlicher Passatbrise. „Willkommen an diesem magischen Platz. Und vergiss, dass die Welt existiert“ , grüßt ein Schild am Ortseingang.
Ich komme gerade vom Zoll und fühle mich von dem Spruch mächtig auf den Arm genommen. Wie wollen mit unserer Luv morgen früh zurück nach St. Lucia und Schiff und Mannschaft müssen ausklariert werden; wie immer eine lästige Pflicht für den Skipper. Beim Einklarieren in Chateaubelair hatten wir uns zu viel Zeit gelassen und dafür ein Bußgeld zahlen müssen. Heute bin ich Minuten nach derAnkunft beim Zoll und bei der Immigration – und jetzt ist der Strafbetrag mehr als doppelt so hoch. Es sei Sonntag, sagt der Beamte, und Sonntags kostet die Abmeldung mehr:
„Overtime!“ Überstunden.
Und wenn ich ihn heute nun nicht in seiner Ruhe gestört hätte und ich wäre erst morgen Früh erschienen? Nein, das geht schon gar nicht, das kostet natürlich „Overtime“, Verspätungszuschlag. Ich wäre geneigt, die Zumutung zu schlucken, die erschwingliche Summe abzubuchen unter privater Entwicklungshilfe für eine wirklich bettelarme Bananenrepublik. Wenn diese Beamten nicht so ausdrücklich, so ganz und gar vorsätzlich, so handgreiflich unhöflich wären.
Aber der Reihe nach: Zwei Zöllner sitzen ganz weit hinten in einem sonst sehr leerem, sehr großen Raum, blicken auf einen kleinen Bildschirm eines Tablet-PC. Ich sage freundlich: „Good day to you, gentlemen!“ Die beiden zeigen keine Reaktion. Ich sage freundlich und jetzt laut: „Good day to you, gentlemen!“ Der uniformierte der beiden Männer greift mit der Hand in eine Kiste und schiebt ein Formular herüber. „Ausfüllen.“, sagt er, der Blick bleibt auf dem Bildschirm. Ich höre jetzt auch den Ton eines Actionfilmes.
Es ist das gleiche unsägliche Formular, das ich schon beim letzten mal ausgefüllt habe, dieselben Namen und Daten und Passnummern aller Crewmitglieder, Länge, Breite und Tiefe der Luv, woher und wohin – alles Daten, die der souveräne Staat St. Vincent schon längst mit vierfach
durchgedrücktem Kohlepapier in seinen Akten nachschlagen und mit der NSA austauschen könnte. Ich zeige das Einreisepapier mit wenig Hoffnung: „
Einfach kopieren?“ Geht natürlich nicht, ein Kopierer ist nicht vorhanden, nur der Tablett-PC, der Ton des Baller-Films ist jetzt ziemlich
laut gedreht. Der Vorgesetzte der beiden sitzt in einem klimatisierten Büro, er ist der mit der „Overtime“. 63,45 EC-Dollar will er haben, ich gebe ihm zwei Fünfziger. „No Change.“, sagt er, er kann nicht wechseln. Er bittet mich nicht etwa, er schickt mich nach schräg gegenüber zur Immigration, zum Einreisebeamten: “ Get Change.“. Der Mann dort hat tatsächlich Kleingeld, aber nicht klein genug. Der Rest von 1,55 EC-Dollar wird einbehalten.
Auf dem Rückweg sehe ich wieder das Schild. “ Vergiss, dass die Welt existiert.“ Das fällt nicht ganz leicht an diesem magischen Platz.
Heiko Tornow